Seite - 430 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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0 Brigitte Dalinger
möglichkeit zu sichern streben, jedes Surrogat ablehnen, den Weg zum Urquell, das
ist zur jüdischen Normalisierung durch Staat und Sprache, freilegen. Wenn man
sich von einer Krankheit befreien will, so meint man auch die Befreiung von ihren
Begleiterscheinungen. Das Jüdeln ist eine der Begleiterscheinungen der jüdischen
Galuthkrankheit. Die Revolte aber vonseiten der anderen ist neu und symptoma-
tisch für die Radikalisierung des Assimilationswillens.“ Haller meint, dass die Assi-
milationswilligen das Jüdeln nur deshalb bekämpften, weil dieses von Antisemiten
verwendet werden könnte, und Antisemitismus „[…] das stärkste, der vollen Assimi-
lation entgegenstehende Hemmnis“ sei. Die Assimilationswilligen hätten, so Haller,
„[…] richtig erkannt, daß der dicke Herr Kohn und die beleibte Frau Pollak, die bei
den jüdelnden Darbietungen in den Vergnügungsstätten von ‚Naches‘ [nakhes, jidd.,
Vergnügen, B. D.] zerfließen, auf halbem Wege stecken geblieben sind, zwar die jü-
dische Würde nicht mehr haben, aber noch eine Art von latentem Wohlgefallen an
‚Jüdischem‘, das einerseits die Nichtjuden an das Vorhandensein von Juden gemahnt,
andererseits diesen für immer den Weg versperrt, selbst zu werden wie die anderen.
Es ist wohl nicht der innere Protest gegen die maßlos dumme und schäbige Ver-
zerrung alles Jüdischen und gegen die innere Fäulnis derer, die an solchem Gefallen
finden, sondern die Angst, es könnte sich in Antisemitismus und in weiterer Folge in
Assimilationsunmöglichkeit verwandeln. Die Angst ist es, die hier der treibende Mo-
tor und gleichzeitig der Konstrukteur eines ergötzlichen – ergötzlich, wenn er für uns
nicht so traurig, so tragisch wäre – Circulus vitiosus ist. Denn eben dieselbe Angst ist
es, die das Jüdeln und den Genuß an ihm erzeugt. Es ist die billigste der Selbstver-
höhnungsarten. Der Selbstverhöhner ist sich der Unfähigkeit, andere zur Zielscheibe
zu nehmen, zuinnerst bewußt und sucht im Selbsthohn eine Entschädigung für den
verlorengegangenen Genuß, in der Hoffnung, sich gleichzeitig auch dadurch aus der
Sphäre des Angegriffenwerdens durch andere zu ziehen – eine zumindest trügerische
Hoffnung.“ Das „Jüdeln“, so schließt Haller, würde erst dann verschwinden, „Wenn
die Anomalien des jüdischen Volkes verschwinden“. Und : „Nicht der Protest des
Zentralvereins wird es bewirken, wohl aber die Regenerationsarbeit des Zionismus.“
Hallers Analyse belegt nicht nur die Differenzen und Debatten zwischen Assimi-
lationswilligen und Zionisten, wie sie in diesen Jahren in Deutschland und Öster-
reich geführt wurden, sondern auch, wie schwierig der innerjüdische Umgang mit
sprachlichen Formen war, die als lächerlich und denunziatorisch aufgefasst werden
konnten. (In dieser Hinsicht verhielt sich der Zentralverein 1926 wie der Vertreter
der Kultusgemeinde 1890.) Auch hier bemühte man sich um Distanz zum „dicken
Herrn Kohn und der beleibten Frau Pollak“, die sich, wie Haller beschreibt, über die
Darstellung ihrer Welt und ihrer Erfahrungen, wie sie auf der Bühne gezeigt wurde,
amüsieren konnten.
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Buch Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519