Seite - 436 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Brigitte Dalinger
Beispiele zu nennen : In Österreich und Deutschland war nach dem Ersten Weltkrieg
ein neues Repertoire möglich, da die Zensur wegfiel. Auswirkungen der Moderne
wurden spürbar ; epische Theaterformen, Zeitstücke, „Glamour“ und „girltroups“ der
Revuen beeinflussten auch die jiddischen Bühnen. Als Teil dieser Neuerungen kön-
nen auch die Bestrebungen in der jüdischen Theaterwelt gesehen werden, wo es zu
Gründungen unterschiedlichster Ensembles mit ähnlichen Zielen kam – etwa der
Wilnaer Truppe, Maurice Schwartz Jüdisches Kunsttheater in New York, von Habima
und Goset in Moskau. Die meisten dieser Gruppen wurden während oder kurz nach
dem Ersten Weltkrieg gegründet und hatten den Anspruch, literarische Dramen in
ästhetisch hochwertigen Inszenierungen zu zeigen.
Die Frage nach dem utopischen Moment, nach einer „schönen Gegenwelt“ im
jüdischen Theater kann aber nur in Zusammenhang mit den Inhalten und Themen
der Theatertexte beantwortet werden. Ein interessantes Beispiel dafür ist An-Skis Der
Dibbuk, uraufgeführt 1920 von der Wilnaer Truppe, die ihre sehr erfolgreiche In-
szenierung in Gastspielen in ganz Europa zeigte. Das Stück wurde sehr schnell inter-
national nachgespielt, auch in deutscher Sprache.
Der Dibbuk spielt in einer geschlossenen jüdischen Welt, innerhalb einer chassidi-
schen Gemeinde, mit klaren Regeln und Hierarchien. Die nichtjüdische Welt kommt
nur in einem einzigen – antisemitischen – Zusammenhang vor (in Form eines Grab-
steins für ein junges Paar, das bei einem Pogrom ermordet worden war). Der Plot
selbst entstammt einer Fabel – Besessenheit eines jungen Mädchens vom Geist ihres
toten Geliebten, der ihr per Schwur als Ehemann zugedacht war. Das Publikum aber
war fasziniert von dieser jüdischen Welt, die hier gezeigt war. In Warschau regte die
Inszenierung, als die Wilnaer Truppe sie dort zeigte, eine regelrechte „Dibbukpsy-
chose“ aus. Die Rezeption des Dibbuk ging weit über die Theaterkritik hinaus, für
Eugen Hoeflich etwa waren die Aufführungen des Dibbuk ein Versinken „in eine
Vergangenheit, die mir gegenwärtiger ist als die Gegenwart, zu der ich verurteilt bin“.
Sie zeigten ihm eine Gegenwelt : „Nichts ist uns verwandt in diesem Europa, das wir
nach zwei, drei Stunden Theater wieder betreten werden, feindlich umstarrt uns eine
feindliche, unfaßbare Kultur […].“
Vgl. Brigitte Dalinger, „Begegnungen mit Dibbukim. Chassidische Mystik im modernen Wiener Thea-
ter zwischen 1880 und 1938“, in : Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 2000, hg. v. Julius H.
Schoeps, Karl E. Grözinger, Willi Jasper, Gert Mattenklott, Berlin, Wien 2000, S. 229–250, S. 235f.
Komödie, 3. Jg. 1922, Nr. 37/38, 11.11.1922 ; vgl. auch Hoeflichs Artikel in der Neuen Freien Presse am
10.11.1922 „Die Wilnaer. (Anmerkungen gelegentlich ihres Wiener Gastspiels.)“ sowie in der Prager
Selbstwehr am 1.12.1922 ; Armin A. Wallas, „Jiddisches Theater. Das Gastspiel der Wilnaer Truppe in
Wien 1922/23“, in : Das Jüdische Echo, Vol. 44, Tischri 5756, Oktober 1995, S. 179–192.
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Buch Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519