Seite - 117 - in Enzyklopädie der slowenischen Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška - Von den Anfängen bis 1942, Band 1: A – I
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Assimilation
Wutti, Drei Generationen wurde (→ Volksabstimmungspropaganda). Der obrig-
keitliche und öffentliche Umgang mit der slowenischen
Frage nach 1920 kann als gezielte Einschüchterung
und somit Traumatisierung einer Gemeinschaft in ih-
rer Ganzheit gewertet werden, die jeden Einzelnen in
der Existenz betraf und zu dessen individueller Ent-
scheidung zur A. führte (vgl. dazu den Grundsatzerlass
Nr. 6693 vom 13. Mai 1924 von Landeshauptmann
Vinzenz → Schumy – selbst slowenischer Herkunft
– wonach die Landesregierung weder verpflichtet noch
berechtigt sei, slowenische Eingaben entgegenzuneh-
men oder zu behandeln). Zudem ließ der Ausgang der
Volksabstimmung für jene, die vorher Kärnten/Koroška
verlassen mussten, nun keine Zukunftsvision im Land
mehr zu und führte ins dauerhafte Exil. Zu berücksich-
tigen ist jedoch gleichzeitig, dass das Volkszählungs-
ergebnis von 1939 (→ Sprachenzählung ; → Germa-
nisierung, statistische), bei dem wieder ein größerer
slowenischer Anteil der Bevölkerung als 1934 erhoben
wurde, ein Indiz dafür ist, dass die A. bzw. die Zurech-
nung zu einer anderen Volksgruppe differenzierter Pa-
rameter bedarf bzw. dass die A. zu diesem Zeitpunkt
bei manchen Bevölkerungsteilen nicht tief greifend
und durchaus noch opportunistisch war (polnische
Zwangsarbeiter lernten nach Sturm-Schnabl [2009]
noch während des Zweiten Weltkriegs nordöstlich
von Klagenfurt/Celovec Slowenisch in der Variante
des autochthonen slowenischen → Dialektes, obwohl
die Sprache verboten war [vgl. → Klagenfurter Feld/
Celovško polje]). Zur systematischen →
»ethnischen
Säuberung« in den Reihen der slowenischen Priester-
schaft kommt es ab 1939 durch die NS-Gewaltherr-
schaft, die durchaus auch kolletkive Effekte der Ein-
schüchterung der gesamten slowenischen Bevölkerung
hatte (→ Verfolgung slowenischer Priester ab 1938 in
Kärnten/Koroška). Die gezielt geografisch im gesamten
slowenischen Siedlungsgebiet durchgeführten → De-
portationen 1942 aufgrund eines staatlich geplanten
Genozids und Ethnozids (Nürnberger Rassengesetze,
→
»Generalplan Ost«, Führeraufrufe, wonach dieses
Land deutsch zu machen sei) sind als extrem traumati-
sierende Ereignisse (»man-made-disasters«) nach Boh-
leber (1998) zu werten, die die Diskriminierungen
und Verfolgungen der Zwischenkriegszeit verstärkten.
Jurič-Pahor (2001), Keilson folgend, spricht von
sequenzieller Traumatisierung, und identifiziert drei
Trauma-Sequenzen : a) Verhaftung und Deportierung,
b) Lagerhaft und NS-Terror sowie c) Nachkriegszeit
mit der Problematik der Wiederfindung der Normali- tät (vgl. auch Wutti, Junge … 2013, Wutti/Wutti
2012). Allerdings führten die zweifellos traumatisie-
renden Deportationen zum bewaffneten Widerstand.
Insgesamt findet spätestens in der Zwischenkriegszeit
ein Wandel vom vornehmlich individuellen Phänomen
der A. hin zu einem kollektiven Phänomen, wie es die
Statistiken der Volkszählungen widerspiegeln.
Kollektive Assimilation als Folge von kollekti-
ver posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS).
Vergleicht man jedoch die Statistik der A. in Kärnten/
Koroška mit der ethnischen Struktur in den befreiten
Gebieten Sloweniens, die unter dem italienischen Fa-
schismus und unter den Nazis ähnlichen Verfolgungen
ausgesetzt waren wie die Slowenen in Kärnten/Koroška
(aus der slowenischen Štajerska [Untersteiermark] wur-
den sogar 60.000 Slowenen deportiert), so erscheint es
offensichtlich, dass die kollektive Aufarbeitung der Trau-
mata in der Phase danach entscheidend für die Fähigkeit
war, die individuelle sowie die kollektive traumatische
Geschichte als Element der persönlichen, abgeschlosse-
nen Vergangenheit und der kollektiven Geschichte zu
integrieren und in höherem Ausmaß zu überwinden.
Avguštin Malle (2002) nennt als Schlüsseldatum
den 20. Juni 1949 : »Obwohl der Verband der slowe-
nischen Ausgesiedelten und der Verband der ehema-
ligen Partisanen Slowenisch Kärntens zum systema-
tischen Sammeln der Erinnerungen und Dokumente
aufgerufen hatten, fanden nur einzelne Betroffene den
Mut und begannen zu schreiben. […] Gründe für die-
ses Verhalten gab es mehrere. Nach dem 20. Juni 1949,
nachdem die Großmächte in Paris entschieden hatten,
die Grenzen Österreichs unverändert zu belassen, er-
schien es vielen nicht angebracht, dies zu tun. Sie hat-
ten ihren Teil zur Niederlage des Nationalsozialismus
beigetragen, in nationaler Hinsicht aber erkannten sie
bald, dass alles unverändert bleiben würde. Sie hüll-
ten sich lieber in Schweigen.« Und dieses Schweigen
drückte auch den Verlust der Hoffnung und des Glau-
bens an eine Zukunft ohne Diskriminierungen aus und
führte wohl auch zum Verdrängen und Verschweigen,
ja zur Tabuisierung der slowenischen Sprache, d. h.
zur A. Die mehrfache Opfergeschichte des aufgrund
seiner religiös motivierten Wehrdienstverweigerung
zum Tode verurteilten Zeugen Jehovas slowenischer
Herkunft Anton → Uran ergänzt das Bild um eine
weitere Facette der Nachhaltigkeit der Traumatisierung
des Umfeldes der jeweiligen Opfer.
Insgesamt muss davon ausgegangen werden, dass fol-
gende gesellschaftliche Erscheinungen maßgeblichen
Enzyklopädie der slowenischen Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška
Von den Anfängen bis 1942, Band 1: A – I
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Enzyklopädie der slowenischen Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška
- Untertitel
- Von den Anfängen bis 1942
- Band
- 1: A – I
- Autoren
- Katja Sturm-Schnabl
- Bojan-Ilija Schnabl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79673-2
- Abmessungen
- 24.0 x 28.0 cm
- Seiten
- 542
- Kategorien
- Geographie, Land und Leute
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Geleitwort von Ana Blatnik, Präsidentin des Bundesrates (Juli – Dezember 2014) 7
- Spremna besede Ane Blatnik, predsednice državnega sveta (julij – december 2014) 8
- Geleitwort von Johannes Koder 9
- Vorwort der Herausgeberin und des Herausgebers 11
- Einleitung – slowenische Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška 15
- Alphabetische Liste der AutorenInnen/BeiträgerInnen im vorliegenden Band 38
- Verzeichnis der Siglen 40
- Verzeichnis der Abkürzungen und Benutzungshinweise 46
- Editoriale Hinweise 51
- Lemmata Band 1 A – I 55