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Assimilation
nerseits die »Kinder […] benutzt [werden], um sich der
Gültigkeit der alten Ideale und Identifizierungen zu ver-
sichern«, andererseits machte die »frühkindliche Loyali-
tätsbindung […] die Kinder in vielen Fällen unbewusst
zu Komplizen der Eltern« (Bohleber). Die »Gültigkeit
der alten Ideale« ist in unserem Fall die Legitimität der
Selbstverneinung durch A.
Für Bohleber (1998) »wird in der Verklammerung
der Generationen [ganz allgemein] das Erbe der vo-
rausgehenden von den folgenden aufgenommen und
bearbeitet«. Bei sog. »man-made-disasters« wirken
diese noch in den Generationen danach, so dass wir ge-
zwungen sind, »uns noch in den Generationen danach
mit den traumatischen Auswirkungen und den unter-
gründig fortwirkenden Identifizierungen auseinander-
zusetzen«. Weiters unterstreicht Bohleber, dass »[k]
ollektive Traumatisierungen nun besondere Generati-
onenkonflikte und Formen der Identifizierung in der
Aufeinanderfolge der Generationen [erzeugen]. […]
Das Extreme Trauma [wird] von den Kindern in der
Phantasie identifikatorisch übernommen.« Die gewalt-
same Zerstörung eines Teils der eigenen Persönlichkeit
durch die aggressive Verneinung der eigenen Mutter-
sprache und Geschichte ist ebenso ein traumatisches
»man-made-disaster«, das einen Teil des aggressiven
minderheitenfeindlichen Diskurses nachfolgender Ge-
nerationen mit erklärt.
Kestenberg (1989) spricht dabei von »Transposi-
tion«, weil diese Identifizierung auch eine Identifizie-
rung mit der Geschichte umfasst, Faimberg (1987)
identifiziert diese unbewusste Identifizierung als ein
Ineinanderrücken von drei Generationen (téléscopage,
Telescoping). Nach Bohleber (1998) brauchen zudem
die Eltern/Opfer ihre Kinder gleichsam, um das »uner-
trägliche Übermaß an Trauer und Aggression projektiv
zu entlasten. Unbewusst wird vom Kind erwartet, dass
es die affektiv belasteten Traumata ungeschehen macht,
die die seelische Struktur der Eltern zerstört haben.«
Und dies gilt für die Slowenen und Opfer ebenso wie
für die, die den Weg der A. beschritten und sich so ei-
nem identitären Gewaltakt unterwarfen, den sie wiede-
rum in irgendeiner Weise integrieren mussten.
In beiden von Mitzman und Bohleber oben be-
schriebenen Varianten finden sich also konvergierende
Erklärungsmodelle für die emotionale Intensität, In-
transigenz und menschenrechtsverachtende Intole-
ranz gegenüber den nicht assimilierten Slowenen, in-
dividuell seitens jener ersten Generationen nach dem
traumatischen Identitäts- bzw. → Sprachwechsel bzw. kollektiv seitens der politischen Eliten nach dem kol-
lektiven Identitätswechsel in weiteren Landstrichen
→ Südkärntens/Južna Koroška (vgl. auch Grünberg
2002, Bohlber 2009, Zöchmeister 2010).
Mit dem in → Sprachenzählungen statistisch nach-
vollziehbaren rasanten »unnatürlichen« → Sprach-
wechsel von Familien, Orten und → Kulturlandschaf-
ten ist von einer steigenden Anzahl von Menschen
auszugehen, die dem seelischen Druck der mit gesell-
schaftlichem Zwang verbundenen A. nicht standhal-
ten konnten, da sie ihrer emotional besetzten Mutter-
sprache entsagt hatten. Folglich musste gleichsam die
kollektive Dynamik der gesellschaftlichen Intoleranz
gegenüber dem Slowenischen steigen, was in diversen
verfassungswidrigen obrigkeitlichen politischen Ma-
nifestationen offensichtlich wird (Schulstreik, Ortsta-
felsturm, Dreiparteienpakt etc. – die »Traumata per-
petuierenden Sequenzen« nach Wutti). Fasst man
zwanghafte (kollektive) A. als Verbrechen an der eige-
nen Seele auf, so ist die psychoanalytische Feststellung
von Bohleber (1998) pertinent und per Analogie
anwendbar, wonach »bei Patienten der zweiten Gene-
ration, deren Eltern in die Nazi-Verbrechen verwickelt
waren, stets die Gefahr [besteht], dass die Vergangen-
heit derealisiert [bzw. bagatellisiert oder abgespaltet]
wird«. Gerade der gesellschaftliche und wissenschaft-
liche Diskurs, wonach das Slowenische in Kärnten/
Koroška oftmals als Zufallserscheinung einer historisch
weit zurückreichenden Vergangenheit zugeschrieben
und die → Zweisprachigkeit eines vormals einsprachig
slowenischen Gebietes suggeriert wird und der massive
Sprachwechsel nicht in jüngster Vergangenheit statt-
gefunden habe (Grafenauer 1984), kann mit Boh-
lebers Konzept der Derealisierung des gewaltsamen
Sprachwechsels durchaus verglichen bzw. erklärt wer-
den. In der → Geschichtsschreibung entspräche das
einem Verschweigen bzw. einer → »Entethnisierung«
der slowenischen → Kulturgeschichte oder der Hyper-
manifestation einer neuen territorialen → Identität.
Die nachhaltige Wirkung der transgenerationellen
Traumatisierung ergibt sich auch insbesondere daraus,
dass unter den Überlebenden des Krieges zahlreiche
Angehörige jüngerer Generationen und Kinder waren,
die nie eine Phase gesellschaftlicher Normalität be-
wusst oder rationell erlebt hatten, an die sie in ihrem
weiteren Leben wieder hätten anknüpfen können, um
die Traumata zu relativieren, zu integrieren und um zu
einer Normalität »zurückzukehren«, die sie nie gekannt
hatten. Zudem wurden diese jungen Generationen erst
Enzyklopädie der slowenischen Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška
Von den Anfängen bis 1942, Band 1: A – I
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Enzyklopädie der slowenischen Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška
- Untertitel
- Von den Anfängen bis 1942
- Band
- 1: A – I
- Autoren
- Katja Sturm-Schnabl
- Bojan-Ilija Schnabl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79673-2
- Abmessungen
- 24.0 x 28.0 cm
- Seiten
- 542
- Kategorien
- Geographie, Land und Leute
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Geleitwort von Ana Blatnik, Präsidentin des Bundesrates (Juli – Dezember 2014) 7
- Spremna besede Ane Blatnik, predsednice državnega sveta (julij – december 2014) 8
- Geleitwort von Johannes Koder 9
- Vorwort der Herausgeberin und des Herausgebers 11
- Einleitung – slowenische Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška 15
- Alphabetische Liste der AutorenInnen/BeiträgerInnen im vorliegenden Band 38
- Verzeichnis der Siglen 40
- Verzeichnis der Abkürzungen und Benutzungshinweise 46
- Editoriale Hinweise 51
- Lemmata Band 1 A – I 55