Seite - 199 - in Enzyklopädie der slowenischen Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška - Von den Anfängen bis 1942, Band 1: A – I
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Carantani
das Motiv und das Sujet sind nicht seiner slowenischen
Heimat entnommen, sie stammen aus den sozialen Ge-
gebenheiten, dem menschlichen Elend in der damaligen
Hauptstadt der Habsburgermonarchie, Wien. Ein Wien,
das von den deutschsprachigen Schriftstellern dieser
Zeit weniger beachtet wurde, die sich der »fröhlichen
Apokalypse Wiens« hingaben, wie Hermann Broch es
ausdrückte, oder das Karl Kraus als Vertreter der »Kaf-
feehausdekadenzmoderne« apostrophierte. In seinem
Roman Hiša Marije pomočnice wird der realistische Stoff
der Erzählung in Symbole transponiert, wodurch seine
Heldinnen – dies sind 14 todkranke Mädchen – die
gesellschaftliche Wirklichkeit überwinden, um in einer
höheren Wirklichkeit ihre Menschenwürde zurückzu-
erhalten. Das Haus der Barmherzigkeit erfuhr eine ex-
zessiv bösartige Kritik, auf die C. mit der Novelle Gospa
Judit [Frau Judit], die ein Jahr später erschien, antwor-
tete : Einmal ganz konkret im poetischen Vorwort mit
einer subtil satirisch-zynischen Polemik, in der er mit
der slowenischen bürgerlichen Gesellschaft und ihren
Handlangern, den Literaturkritikern, abrechnet. Zum
anderen aber lag die Antwort darin, dass er mit Gospa
Judit eine Frau zur literarischen Heldin machte, deren
Charakter sich durch kompromisslose Wahrheitsliebe
und Moral auszeichnet, die aber nach den gängigen
gesellschaftlichen Auffassungen als Ehebrecherin und
Hure klassifiziert wurde.
In seiner letzten Schaffensperiode, die in die Zeit des
Ersten Weltkrieges fiel, den er als Soldat und als In-
haftierter erlebt hatte (→ Militärgerichtsbarkeit), the-
matisiert C. Tod und Todesahnungen. In seinem Werk
Podobe iz sanj [Traumbilder] transponiert C. z. B. die
Gewölbe des Gefängnisses auf der Burg von Ljubljana,
wo er 1914 eingekerkert gewesen war, in die Katakom-
ben des Herzens. In dieser Periode wandte sich C. dem
Expressionismus zu.
Durch sein vielfältiges Engagement und seine Werke
mit europäischer Dimension, sowohl in seiner Dich-
tung als auch in seinen Dramen und Prosawerken, rief
er als Politiker, aber auch als Künstler stets lebhafte
Polemiken hervor und war daher schon im zeitgenössi-
schen Kulturraum stets präsent, um schließlich seinen
herausragenden Platz als der größte Sprachkünstler
in der slowenischen Literatur- und Kulturgeschichte
einzunehmen. Seine erste Gedichtsammlung (Erotika,
1899) ließ der Bischof von Ljubljana Anton Jeglič
aufkaufen und verbrennen. C.s Dramen provozierten
einen Teil der slowenischen konservativen bürgerlichen
Gesellschaft. Die linke Intelligenzija hingegen erfasste nicht nur ihren sozialkritischen, sondern auch den
künstlerischen Wert und das sprachliche Kunstwerk.
So schrieb Oton → Župančič nach der Uraufführung
des Dramas →
Lepa Vida [Die schöne Vida], diese sei
das »Hochamt des slowenischen Wortes« (Visoka maša
slovenske besede).
C. entwickelt seine Kurzerzählungen zu einem be-
sonderen Genre. In seiner kulturpolitischen und politi-
schen Essayistik bezieht C. immer Stellung, doch blei-
ben die Inhalte immer dem sprachlichen Kunstwerk
untergeordnet. Selbst die scharfe Auseinandersetzung
mit seinen Kritikern in Bela krizantema [Weiße Chrys-
antheme] (1909) wird zu einem seiner schönsten Texte.
Mit Kärnten/Koroška verbindet C. vor allem die
→ Mohorjeva in → Klagenfurt/Celovec, bei der er pu-
blizierte.
Werke : Ivan Cankar : Zbrani spisi 1–20 Ljubljana 1925–1936 (Red.
Izidor Cankar), Bd. 21, Maribor 1954 (Red. Francé Dobrovoljc) ; Ivan
Cankar : Izbrana dela 1–10 Ljubljana 1951–1959 (Red. Boris Mer-
har) ; Ivan Cankar : Zbrano delo slovenskih pesnikov in pisateljev 1–30.
Ljubljana 1967–1976.
Üb.: Der DRAVA Verlag in Klagenfurt/Celovec führt seit 1994 eine
Werkausgabe in deutscher Sprache von C.s Werk in der Übersetzung
von Erwin Köstler.
Lit.: SBL ; EJ ; ÖBL ; ES. – Ivan Prijatelj : Poezija »Mlada Poljske«. In :
LZ (1925) 1, 16–25 ; 2, 83–94 ; 3, 147–157 ; 4, 210–218 ; 5, 268–298 ;
W. Walder : Ivan Cankar als Künstlerpersönlichkeit. Graz/Köln 1954 ;
D. Pirjevec : Ivan Cankar in slovenska literatura. Ljubljana 1964 ; A.
Goljevšček : Mit in slovenska ljudska pesem. Ljubljana 1982 ; M. Jähni-
chen : Zur Frage des sozialen Engagements im Symbolismus. In : Obdobja
4/1 (1983) 115–125 ; I. Cesar : Na krizišcu realizma in simbolizma.
In : Obdobja 4/2 (1983) 155–183 ; F. Bernik : Tipologija Cankarjeve
proze. Ljubljana 1983 ; F. Bernik (Hg.) : Ivan Cankar in Mohorjeva.
Celovec 1989 ; K. Sturm-Schnabl : Ivan Cankars »Gospa Judit«, eine
Frau rebelliert. In : Slava – debatni list III/2 (1989) 127–143 ; A. Le-
ben : Ästhetizismus und Engagement : die Kurzprosa der tschechischen
und slowenischen Moderne. Wien 1997 ; M. Mitrović : Die Geschichte
der slowenischen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Aus
dem Serbokroatischen übersetzt, redaktionell bearbeitet und mit aus-
gewählten Lemmata und Anmerkungen ergänzt von Katja Sturm-
Schnabl. Klagenfurt/Celovec [e. a.] 2001 ; A. Jensterle-Doležal : Miti
o vojni in smrti. Podobe smrti pri Ivanu Cankarju. In : V krogu mitov.
O ženski in smrti v slovenski književnosti. In : Slavistična knjižnica
13 (2008) 96–109.
Web : K. Sturm-Schnabl : Soziales Engagement und symbolistische
Stilmittel bei Ivan Cankar. Das Wien der Jahrhundertwende aus der
Perspektive eines europäisch-slowenischen Autors. In : TRANS Internet
Zeitschrift für Kulturwissenschaften 7. Nr. September 1999 = http://
inst.at/trans/7Nr/sturm7.htm ; www.drava.at (20. 1. 2013)
Katja Sturm-Schnabl
Carantani, lateinische Bezeichnung der Bewohner des
Fürstentums Karantanien ducatus Carantanorum (um
Enzyklopädie der slowenischen Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška
Von den Anfängen bis 1942, Band 1: A – I
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Enzyklopädie der slowenischen Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška
- Untertitel
- Von den Anfängen bis 1942
- Band
- 1: A – I
- Autoren
- Katja Sturm-Schnabl
- Bojan-Ilija Schnabl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79673-2
- Abmessungen
- 24.0 x 28.0 cm
- Seiten
- 542
- Kategorien
- Geographie, Land und Leute
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Geleitwort von Ana Blatnik, Präsidentin des Bundesrates (Juli – Dezember 2014) 7
- Spremna besede Ane Blatnik, predsednice državnega sveta (julij – december 2014) 8
- Geleitwort von Johannes Koder 9
- Vorwort der Herausgeberin und des Herausgebers 11
- Einleitung – slowenische Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška 15
- Alphabetische Liste der AutorenInnen/BeiträgerInnen im vorliegenden Band 38
- Verzeichnis der Siglen 40
- Verzeichnis der Abkürzungen und Benutzungshinweise 46
- Editoriale Hinweise 51
- Lemmata Band 1 A – I 55