Seite - 246 - in Enzyklopädie der slowenischen Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška - Von den Anfängen bis 1942, Band 1: A – I
Bild der Seite - 246 -
Text der Seite - 246 -
246
Dezemberverfassung
aller (konstitutiven) → »Volksstämme« im Sinne von
»Völker«. Auch wird die »Gleichberechtigung aller lan-
desüblichen Sprachen in Schule, Amt und öffentlichem
Leben« als Verfassungsrecht definiert. Es wird auf das
Kollektiv abgestellt und nicht, wie später im →
Vertrag
von Saint-Germain, auf die einzelnen Angehörigen der
Minderheit. Die gesellschaftliche Realität der unter-
schiedlichen Machtverhältnisse interferiert allerdings
bereits in den dritten Satz von Art. 19, in dem statu-
iert wird, dass »ohne Anwendung eines Zwanges zur
Erlernung einer zweiten → Landessprache jeder dieser
Volksstämme die erforderlichen Mittel zur Ausbildung
seiner Sprache erhält«. Gerade in jenen Kronländern, in
denen insbesondere seit den josephinischen Reformen
Deutsch 1784 als innere → Amtssprache eingeführt
worden war, kam es zu einer sozialen Hierarchisierung
der Sprachen. Diese soziolinguistische Realität wurde
durch die bereits deutschnationale, politisch motivierte
Politik gestärkt und von weiteren Machtinstrumenten
wie Wirtschaft, Wahlrecht bzw. → Wahlordnungen,
→ Wahlkreiseinteilungen, sonstige Verwaltungseintei-
lungen (Kreise, Bezirkshauptmannschaften, Gerichts-
bezirke) und von den Bestimmungen der → Sprachen-
zählung und statistischen → Germanisierung flankiert
(nach M. Klemenčič). Dies führte zu systematischen
rechtlichen Diskriminierungen, d. h. zu obrigkeitlich
abgesegneten, verfassungswidrigen Grundrechtsverlet-
zungen, die gegen die Slowenen und andere slawische
Völker gerichtet waren. Das utraquistische → Schul-
wesen nutzte so einerseits die Hintertür der »Befrei-
ung« vom »Zwang«, das Slowenische im geschlossenen
slowenischen Siedlungsgebiet zu erlernen, und hatte
gleichzeitig als gesetzliches Ziel, ganze Bevölkerungs-
teile und Gebiete zu germanisieren (→
Germanisie-
rung, →
Assimilation). Zunutze machte es sich dabei
soziolinguistische und psycholinguistische Gesetzmä-
ßigkeiten und Phänomene und legte in einer ersten
Phase durch die strukturelle Erhöhung der → Rele-
vanz des Deutschen bzw. durch die damit verbundene
Redundanz des Slowenischen die Grundlagen für den
generationenübergreifenden → Sprachwechsel.
In der Folge in Umsetzung des Art. 19 des Grund-
rechtskataloges wurde so lediglich in → Krain/Kran-
jska das Landesgesetzblatt wieder in einer zweispra-
chigen Fassung herausgegeben, bei der beide Sprachen
gleichermaßen authentisch waren. Im Kärntner Land-
tag wurde diese Frage 1868 sogar diskutiert, doch mit
nicht verfassungsrelevanten Argumenten abgelehnt.
Die diesbezügliche Regelung war am restriktivsten von allen slowenischen Kronländern (→ Landesge-
setzblatt, zweisprachiges Kärntner). Zudem bestimmte
das »Gesetz über die Kundmachung von Gesetzen und
Verordnungen durch das → Reichsgesetzblatt« vom
10. Juni 1869 (RGBl. 113/1869), dass lediglich dessen
deutschsprachige Fassung authentisch sei, und dass die
Ausgaben in den »übrigen landesüblichen Sprachen
[…] die offiziellen Übersetzungen des authentischen
Textes« seien. Das höhlte somit materiell die Bestim-
mung von Art. 19 des Grundrechtskataloges bereits
aus (→ Kundmachung [3]). In Kärnten/Koroška bzw.
in dessen slowenischen Landesteil unterwanderten
der Landtag und die übrigen Behörden aufgrund der
Staatsordnung systematisch die verfassungsmäßig ge-
währleisteten Grundrechte der Slowenen (→ Landes-
gesetzblatt, Franc → Muri).
Differenziert ist auch das Grundrecht auf Freiheit
von Wissenschaft und Lehre (Art. 17) in seinen
Auswirkungen für die slowenische Kulturgeschichte
zu betrachten. Denn obschon etwa in Graz das Slo-
wenische an der Karl-Franzens-Universität sporadisch
berücksichtigt wurde und zahlreiche Slowenen sich an
Universitäten entfalteten (z. B. Franz → Miklosich,
Josef → Stefan u. a.), wurde den Slowenen eine ei-
gene Universität verwehrt. Das Grundrecht auf Frei-
heit von Wissenschaft und Lehre konnte institutionell
in den slowenischen Kronländern und insbesondere
nicht einmal in → Krain/Kranjska zur Anwendung
kommen und wurde erst im SHS-Staat bzw. im ers-
ten → Jugoslawien verwirklicht. (Mit dem Argument
der Freiheit der Lehre sollte langfristig die Errichtung
einer eigenständigen Lehrkanzel für Slowenistik an der
Universität Wien trotz des einfachgesetzlichen Auftra-
ges aus dem Universitäts-Organisationsgesetz aus dem
Jahr 1975, des zwischenstaatlichen, d. h. völkerrechtlich
wirksamen Kulturabkommens zwischen Österreich und
Slowenien, und trotz der Verfassungszielbestimmung
der Förderung der österreichischen Volksgruppen aus
Art. 8/2 BVG aus dem Jahr 2000 [BGBl. 68/2000]
systematisch bis in die Gegenwart verhindert werden
[Schnabl 2013, 178–179].)
Die strukturellen Auswirkungen der liberalen, wirt-
schaftlichen Grundfreiheiten lassen sich beispielhaft
an der Entwicklung der sprachlichen Situation entlang
der 1857 durchgehend von Wien über Graz, → Ma-
ribor, → Celje, → Ljubljana bis → Trieste/Trst/Triest
führenden Südbahn nachvollziehen, wo gerade die
Kombination von wirtschaftlichen und soziolinguis-
tischen Phänomenen nationalideologischen Intentio-
Enzyklopädie der slowenischen Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška
Von den Anfängen bis 1942, Band 1: A – I
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Enzyklopädie der slowenischen Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška
- Untertitel
- Von den Anfängen bis 1942
- Band
- 1: A – I
- Autoren
- Katja Sturm-Schnabl
- Bojan-Ilija Schnabl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79673-2
- Abmessungen
- 24.0 x 28.0 cm
- Seiten
- 542
- Kategorien
- Geographie, Land und Leute
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Geleitwort von Ana Blatnik, Präsidentin des Bundesrates (Juli – Dezember 2014) 7
- Spremna besede Ane Blatnik, predsednice državnega sveta (julij – december 2014) 8
- Geleitwort von Johannes Koder 9
- Vorwort der Herausgeberin und des Herausgebers 11
- Einleitung – slowenische Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška 15
- Alphabetische Liste der AutorenInnen/BeiträgerInnen im vorliegenden Band 38
- Verzeichnis der Siglen 40
- Verzeichnis der Abkürzungen und Benutzungshinweise 46
- Editoriale Hinweise 51
- Lemmata Band 1 A – I 55