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Immersion
malen aktiven Wortschatz in ihrer Muttersprache ge-
braucht, ist eine mehrsprachige Person viel eher mit der
inneren Frustration konfrontiert, eine der gesprochenen
Sprachen funktional aktiv schlechter zu beherrschen.
Das gilt bei einer zweisprachigen Person umso mehr,
als je nach Sprechsituation die subjektiven Sprach-
kenntnisse in einer der beiden Sprachen oftmals funk-
tional geringer sind. Eine mehrsprachige Person kann
dagegen dieses Manko in einer Sprache eher »relativie-
ren« und empfindet es daher weniger stark frustrierend.
Allein diese Frustration und das Bewusstsein des unter-
schiedlichen Sprachniveaus führen in der Regel zu ei-
nem »Schneeballeffekt« beim Gebrauch. Die subjektiv
dominante Sprache kommt, weil dies als leichter emp-
funden wird, tendenziell vermehrt zur Anwendung und
wird somit gefördert, die andere regressiert. Die I. ver-
leiht hingegen der jeweiligen Sprache eine subjektive
Relevanz, wodurch der Lerneffekt gestärkt wird. Zu-
dem werden automatische, menschliche Vermeidungs-
strategien wie geistiges »Abschalten« oder Flucht in die
innere Kommunikation erschwert. Bei diesem kommt
der Automatismus zum Tragen, wonach man bei der
Kommunikation in jene Sprache wechselt, die man als
»leichter« empfindet bzw. bei der man bessere relative,
funktionale Sprachkenntnisse hat. Die Selbsttäuschung,
man habe das Lernziel ohnehin erreicht, wird durch die
aktive Praxis einer ständigen Prüfung unterzogen und
strukturell überwunden. Die I. hat damit einen Einfluss
auf den nachhaltigen Spracherwerb und somit auf die
sprachliche Identität des Sprechers (→ Muttersprache).
Bei steigendem Alter verringern sich zwar die rein
affektiven Aspekte des Spracherwerbs und der Nach-
ahmung, doch die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten
des Spracherwerbs, nämlich → Relevanz und Redun-
danz von Sprache, bleiben bestehen. Deshalb werden
etwa Sprachkurse im jeweiligen Mutterland der Spra-
che (Sprachferien) und sog. Konversationskurse mit
Muttersprachlern für Erwachsene abgehalten, die ein
situationsbezogenes Erlernen einer Fremdsprache oder
der Muttersprache fördern und erleichtern sollen.
Eine frühe historische Beschreibung dieser Methode –
ohne sie noch als solche zu bezeichnen – findet sich in der
→ Goldenen Bulle Kaiser Karls IV. aus dem Jahr 1356.
Darin wird die Notwendigkeit hervorgehoben, die sla-
wischen Sprachen der Länder des Heiligen Römischen
Reiches zu beherrschen und den Söhnen der Kurfürsten
die rechtliche Verpflichtung auferlegt, diese ab dem Al-
ter von sieben Jahren zu lernen und sie bis zum 14. Le-
bensjahr zu beherrschen. Gleichzeitig wird de facto die I. als modern anmutende pädagogische Methode erläutert.
Die Goldene Bulle empfiehlt muttersprachliche Haus-
lehrer bzw. Konversationspartner einschließlich moder-
ner »Sprachferien«, indem sie festhält : »… [die Söhne]
in Gegenden [zu] schicken, wo sie jene Sprachen erler-
nen können, oder sie daheim sprachkundigen Erziehern,
Lehrern und gleichaltrigen Gefährten [zu] übergeben.«
Aeneas → Piccolomini (1405–1464) vertrat in einem
um 1450 verfassten Traktat, dem Erziehungsprogramm
für Ladislaus Postumus (1440–1457), den Stand-
punkt, das Reich habe einen multiethnischen Charak-
ter, und war der Ansicht, Ladislaus könne die Spra-
chen spielend durch Konversation erlernen, zumal die
Sprachkenntnisse seinem Großvater Kaiser Sigismund
von Luxemburg nützlich gewesen waren, die Un-
kenntnis derselben seinem Vater König Albrecht II.
geschadet haben (Simoniti).
Nach Hannelore Burger war unter der Bevölkerung
in Böhmen noch im 19. Jh. der sog. »Kindertausch« üb-
lich : tschechische Kinder wurden auf einige Zeit (bis
sie die Sprache erlernten) in deutsche Dörfer und um-
gekehrt geschickt. Wadl weist im Zusammenhang mit
einer historischen Beschreibung der Herrschaft → Os-
siach/Osoje aus dem Jahre 1803 auf eine vergleich-
bare, soziolinguistisch bemerkenswerte Praxis hin, die
ebenfalls der I. entspricht : »Der Hofrichter beschreibt
[in seiner historischen Beschreibung der Herrschaft
Ossiach/Osoje] ausführlich, dass Bauern aus → ›win-
dischen‹ Gegenden ihre Söhne über mehrere Jahre zum
Spracherwerb in deutsche Orte schickten, weshalb bei
den ›windischen‹ Untertanen der Herrschaft Ossiach
die Männer nahezu alle → zweisprachig, die Frauen
jedoch nur einsprachig seien« (zur gesellschaftlichen
Rolle der Frauen vgl. → Frauen im ländlichen Raum).
Für die so beschriebene Lernmethode bietet sich der
Begriff der personalen Immersion an.
Als ursprünglich aristokratische Methode des Spra-
cherwerbs hat sich die I. bewährt, wie dies die Beispiele
der Sprachkenntnisse aus den europäischen Adelshäu-
sern bestätigen (→ Adelssprache, dort Maximilian
I.), und zwar auch, weil sie, wie es die konzeptuelle
Grundlage der Goldenen Bulle beweist, Ausdruck einer
hohen Sprachkultur und Ethik ist. Historisch gesehen
hat in Kärnten/Koroška die slowenische Kirchen- bzw.
→ Liturgiesprache mit ihren Litaneien und Wieder-
holungen mit strukturell denselben Lehrmethoden der
funktionalen Immersion einen bedeutenden Beitrag
zum Erhalt und zur Entwicklung der Sprache beige-
tragen. Bischof Anton Martin → Slomšek forderte
Enzyklopädie der slowenischen Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška
Von den Anfängen bis 1942, Band 1: A – I
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Enzyklopädie der slowenischen Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška
- Untertitel
- Von den Anfängen bis 1942
- Band
- 1: A – I
- Autoren
- Katja Sturm-Schnabl
- Bojan-Ilija Schnabl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79673-2
- Abmessungen
- 24.0 x 28.0 cm
- Seiten
- 542
- Kategorien
- Geographie, Land und Leute
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Geleitwort von Ana Blatnik, Präsidentin des Bundesrates (Juli – Dezember 2014) 7
- Spremna besede Ane Blatnik, predsednice državnega sveta (julij – december 2014) 8
- Geleitwort von Johannes Koder 9
- Vorwort der Herausgeberin und des Herausgebers 11
- Einleitung – slowenische Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška 15
- Alphabetische Liste der AutorenInnen/BeiträgerInnen im vorliegenden Band 38
- Verzeichnis der Siglen 40
- Verzeichnis der Abkürzungen und Benutzungshinweise 46
- Editoriale Hinweise 51
- Lemmata Band 1 A – I 55