KI und Nostalgie#
(Wege in die Unsichtbarkeit)#
von Jürgen Kapeller„Was sich reimt, ist gut“ wusste bereits der Herr Pumuckl und so geleitet mich obiger Titel ein wenig zurück in die Zeit, in der dieser beliebte, freche Rotschopf noch allgemeines Kulturgut war.
Was ist passiert?#
Dieser Tage hat ein befreundeter Arzt seine Praxis geschlossen und nachdem sein IT-Betreuer konkursbedingt in weite Ferne entflohen war, hat er mich gebeten, ob ich nicht seine Alt-PCs fachgerecht von Daten säubern und der ultimativen Bestimmung zuführen könnte. Freunden kann man schwer etwas abschlagen, also ist er mit seinem dicken SUV angetuckert und hat den vollen Kofferraum in mein Büro entleert. Da stehen nun Altgeräte aus mehreren PC-Generationen herum und warten auf ihr finales Löschen, welches ich mit einem bulligen Magneten auf die Brachiale zu erledigen gedenke.Besonders ins Auge sticht ein Server aus 1995 (da war die Gen Z noch ein feuchter Traum). Ein riesiger Big-Tower in traditionellem lichtgrau mit stark vergilbter Front, die beim ersten Hingreifen auch schon runterbricht, weil keine Schrauben sie mehr halten. 1995 gab’s IT noch zum Kilopreis und dementsprechend teuer muss das schwere Stück wohl gewesen sein.
Ich werde neugierig und möchte das Ding einfach interessehalber mal zum Laufen bringen. Alter VGA-Ausgang – passt aber natürlich scheitere ich zuerst an der Tastatur und der Maus. Ältere Semester werden sich vielleicht noch erinnern: Tastaturen hatten mal einen Rundstecker mit so 15 Millimeter Durchmesser und fünf Kontakten. Ich finde in meiner Museumsschachtel glücklicherweise einen Adapter und auch noch eine alte Tastatur mit dem kleinen Rundstecker und damit sollte es doch gehen, denke ich.
Mit Spannung drücke ich den Einschaltknopf (Taster waren 1995 nicht modern) und tatsächlich fährt das Ding an. Mich überfällt ein wenig Nostalgie, denn die schon ausgemergelte Mechanik setzt zum Konzert an. Man hört jedes einzelne Teil werkeln. Es beginnt mit dem unregelmäßigen Rumpeln des Netzteil-Lüfters und setzt fort mit dem unverkennbaren Singen der Festplatten, das dann auf einer Frequenz bleibt, die knapp unter der eines leisen Zahnarztbohrers liegt.
Als das Betriebssystem startet, ertönt das noch immer vertraute Geräusch der zugreifenden Schreib/Lese-Köpfe, was ein wenig an sanften Regen auf ein schräges Dachfenster erinnert.
Das Betriebssystem braucht so gute acht Minuten und sagenhaft viel Text, bis das alte SCSI-Raid die Daten hergibt und dann steht da ein einfacher Prompt auf dem Bildschirm. Ich begreife nun was das ist: Novell Netware!
Kennt das heut noch wer? 1983 entwickelt und 2010 eingestellt war es mal der Standard der Netzwerkbetriebssysteme bevor die MS-Krake alles aufgesogen hat. Schrecklich kompliziert und mühsam zu warten, aber es war im Unterschied zu Windows für Wohngemeinschaften (WfW) stabil und performant.
Da mein Netware-Wissen schon vor geraumer Zeit unnütz geworden war und ich es in den Neuromüll gekippt habe, lass ich es sein und drehe wieder ab.
Der Weg in die Lautlosigkeit#
Nicht dass ich dieses geräuschvolle Atmen früher PCs vermisse, aber zumindest vermittelte es ein wenig Gewissheit, dass die Kiste noch arbeitet.Es ist tonlos geworden an den heutigen PC-Arbeitsplätzen. Gespeichert wird auf Chips und die Lüfter drehen langsam. Lediglich ein paar blinkende LEDs, irgendein Uhrensymbol oder ein sich drehender Kringel lassen Geschäftigkeit vermuten. Doch diese Arbeitsindikatoren sind auch bei einem Absturz zumeist noch am Leben und so ist es der eingefrorene Mauszeiger oder die Verweigerung von Tastatureingaben, welche den verlorenen Kampf gegen den Prozessortakt signalisieren.
Der Weg in die Lautlosigkeit ist also bereits geschafft, bleiben also nur noch die paar Meter in die Unsichtbarkeit. „Wird nie kommen“, hör ich die Unken klugscheißern. Wenn ich all die heute verfügbaren Dinge, die es angeblich nie geben hätte können, zu Papier brächte, könnte ich mein Büro damit tapezieren. Aber wie kann das werden, ein unsichtbarer PC?
Wenn man sich vor Augen hält, dass ein heutiges Smartphone mehr kann, als ein Apple Mac anno 2005, stottern selbst die allwissenden Unken. Wer schon mal eine Google Brille getestet und das auch ohne bleibende Wahrnehmungsschäden überlebt hat, wird vielleicht ahnen, wohin es gehen könnte. Auch wenn Google Glass 2023 eingestellt wurde, arbeitet man an einem fulminanten Comeback. Das Projekt heißt „ASTRA“ und ist Gemini-basiert (für die Älteren unter uns: nein, nicht der enge NASA-Zweisitzer aus den 60ern, sondern Google’s KI-Lösung). ASTRA ist ein universeller KI- Assistent, der natürlich auch ohne Glass läuft aber mit Glass richtig „magic“ werden soll. Man darf gespannt sein.
Da ist sie also schon wieder, die KI und sie wird uns mit ziemlicher Sicherheit in den nächsten zehn Jahren unsichtbare PCs bzw. Mobiles und eine völlig revolutionäre Form der Mensch-Maschine- Schnittstelle bescheren. Aus die Maus, vorbei das Tastenhämmern, raus mit den hässlichen Möbeln namens Bildschirm. Stattdessen Gestensteuerung, Spracheingabe, Netzhautprojektionen und PCs, die im schmucken Armband stecken und ihre Energie aus den laufenden Bewegungen beziehen.
Wir werden überall wo wir gehen und stehen ein Gerät benutzen können, das unseren heutigen Möbelstücken, Notebooks oder Smartphones haushoch überlegen ist. Es hat im kongolesischen Dschungel Internetverbindung, kann telefonieren, mich beim Bezahlen oder bei Reisen sicher identifizieren, mir beim Anblick des Stephansdoms etwas über seine Geschichte erzählen und mir Ratschläge giben, welche Hose besser zu mir passt.
Eine Unsichtbarkeit mit Doppelsinn, denn bereits heute bleibt uns im Grunde verborgen, wie eine KI denn so zu ihren Ergebnissen kommt.
Vielleicht beendet das dann ja doch wieder die Lautlosigkeit, denn ich denke gerade an die vielen seltsamen Gestalten in der U-Bahn, die bereits dieser Tage mit ihren Ohrstöpseln oder dicken Kopfhörern (sind wieder modern) ständig Eigenartiges vor sich hin brabbeln und gelegentlich im ganzen Wagon zu hören sind. Wenn die dann alle mit ihren KIs in den Armband-PCs quasseln…
Ganz Pingelige werden jetzt motzen „Ist aber schon sichtbar, so eine Brille oder ein Armband!“. Na gut, ich leg etwas nach!
In fünfzehn bis zwanzig Jahren werden Menschen nach Ende des Wachstums die Möglichkeit haben, sich ein etwa zehn mal fünf Zentimeter großes und ein Millimeter hohes Implantat unter die Kopfhaut ziehen zu lassen, welches dann per Mikroelektroden mit relevanten Hirnregionen verbunden wird. Es handelt sich dabei um einen vollwertigen SUPER-KI-PC mit Funktionen für Bilder, Sprache, Ortung, Telefon und was uns sonst noch so nützlich erscheinen wird.
Die eingebaute KI braucht dann etwa einen guten Monat, bis sie auf das jeweilige Gehirn trainiert ist und dann geht die Post ab. Wir werden die Welt erleben, wie nie zuvor – Suchtpotential inbegriffen. Was wir heute ehrfurchtsvoll als „Augmented Reality“ bezeichnen, wird zur Standard-Reality werden. Beliebige Information an beliebiger Stelle in beliebiger Tiefe verfügbar. Ob das Verständnis mithält ist eine andere Frage.
Vertreibung aus dem Paradies?#
Auch Emotionen wird die KI erkennen und gegebenenfalls angemessen reagieren – je nach Preset. Wir werden in der KI unseren „Freund Harvey“ finden (Jüngere sollten ChatGPT dazu befragen), der sich zum angenehmsten, super-empathischen, verständnisvollen und noch dazu allwissenden Lebensbegleiter entwickelt. Harvey wird mitentscheiden, was wir kaufen, welche Filme wir ansehen und wen wir daten. Die Welt ist endlich so, wie man sie sich jeweils zurechtlegt. „Paradiesische Zeiten“ stehen uns bevor. Vielleicht versteht jetzt so manche*r, welch unsagbares Glück uns widerfahren ist, aus dem Paradies vertrieben worden zu sein.Ich stelle mir gerade vor, dass irgendein in meine Kopfhaut eingebautes Paarship mir ständig Sexualpartner vorschlägt. Aber vielleicht ist mir Harvey bereits sowas von einem Idealpartner geworden, dass ich die Unerquicklichkeit, mich mit realen Menschen auseinandersetzen zu müssen, einfach nicht mehr ertrage. Sinnvollerweise habe ich mir gleich das Set für die Genitalstimulation dazu bestellt. Das vereinfacht die Ermitage.
Mein Gemütszustand hängt nun endgültig davon ab, ausreichend shoppen zu gehen, bis all mein verfügbares Geld auch ausgegeben ist. Aber das stört mich nicht, denn der Algorithmus verhindert wenigstens, dass ich Schulden mache.
Politische Ansichten benötige ich jetzt nicht mehr. Solange die Welt, in der ich lebe, den Rest des Universums nur für das Nötigste braucht, bin ich fein raus und muss mich nicht über Skandale, Korruption oder Unfähigkeit ärgern. Ganz sicher bin ich mir eh nicht, ob das, was ich von der KI so vorgesetzt bekomme nicht irgendwie manipuliert wurde. Lügenpresse, weiß man ja.
Verreisen ist auch überflüssig geworden. Die KI generiert mir einen supergeilen Urlaub auf Jamaika anno 1968, als das Meer noch sauber war und James Bond um die Ecke bog. Ich fühl mich wie 25 und meine Wirkung auf die exotischen Schönheiten ist phänomenal. Wenn die wüssten, dass ich gerade in meiner Miniküche Fast-Food mampfe, während ich innerlich Cocktails und Austern genieße.
Irgendwann, zufällig an einem 24.12., wird niemand mehr wissen, dass es mich überhaupt gibt oder zumindest, wer ich wirklich bin. Die Future-Billa Kassiererin wüsste es vielleicht noch, wäre sie nicht Jahre zuvor wegautomatisiert worden.
Dann bin auch ich unsichtbar geworden.
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