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Italien beginnt beim Dachfirst am Brenner #

Im November 1918 wird der Brenner zum Symbol für Siegerjustiz und Unrechtsgrenze. Ideologie und Nationalismus besiegen Sprache und Kultur. Die Grenzschranken gehen runter und erst der europäische Gedanke wird sie wieder heben. #


Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus: DIE FURCHE (22. November 2018)

Von

Wolfgang Machreich


Deutsche Angriffstruppen mit MG 08/15 (Schlacht von Caporetto, italienische Front, 1. Weltkrieg, 1. Weltkrieg, 1917)
Deutsche Angriffstruppen mit MG 08/15 (Schlacht von Caporetto, italienische Front, 1. Weltkrieg, 1. Weltkrieg, 1917).
Foto: Wikicommons, unter PD

Der Krieg endete im Chaos. Der Waffenstillstand vom 4. November 1918 löste auch in Tirol noch einmal eine ungeheure Mobilisierung aus: Hunderttausende Soldaten, die Richtung Heimat strömten, tonnenweise Kriegsmaterial, das herrenlos zurückblieb, Zivilisten, die Militärmagazine plünderten, Kriegsgefangene, die ihre neue Freiheit mit Alkoholdiebstählen feierten … „Der Tiroler“ meldete aus Bozen: „Seit das Zurückstromen der Soldaten an der Front begonnen hat und zahlreiche Mannschaft ihre Verbände und damit auch ihre geregelte Verpflegung im Stiche gelassen hat, häufen sich die Fälle von ganz offen verübtem Raub und gewaltsamer Plünderung in grauenerregender Weise.“ Das Zitat findet sich im Buch „Der hohe Preis des Friedens“ (Tyrolia Verlag) von Marion Dotter und Stefan Wedrac. Die Historiker beschreiben darin detailreich, spannend und vorwiegend aus der Zeitzeugen- Perspektive die Geschichte der Teilung Tirols. Als große Geschichte am kleinen Beispiel lässt sich dieses Geschichte-von-untenerzählt- Konzept zusammenfassen. Der entsetzte Bericht eines Offizier über den Scherz heimziehender Soldaten wird so zum Sinnbild der Auflösung alter Ordnung: „Als wir die Strassensteigung Sterzing – Brenner erreichten, sahen wir mit Entrüstung, dass verruchte Hände das Haupt der Statue Seiner Majestät Franz Josephs I. mit einem Stahlhelm, dessen Gesicht mit einer Gasmaske bedeckt und auf seine Schultern einen Rucksack gehängt hatten.“

Kampfloser Gebietsgewinn #

Das Chaos wurde noch durch den seitens Österreich-Ungarns zu früh ausgegebenen Waffenstillstandsbefehl vergrößert. Während die österreichisch-ungarischen Soldaten ihre Waffen niederlegten, stießen italienische und britische Patrouillen weit über die ehemalige Frontlinie vor. Die Italiener verkauften diesen kampflosen Gebietsgewinn als „Sieg von Vittorio Veneto“. Österreich sagte Betrug dazu. Schuld war allein das k. u. k. Armeeoberkommando, das nicht einmal mehr dazu in der Lage war, den selbst angezettelten Krieg wenigstens ordentlich zu beenden. Ein Soldat, der dem Hexenkessel entrinnen konnte, schrieb: „Was ich in den letzten 8 Tagen und besonders in den letzten 24 Stunden mitmachte, spottet jeder Beschreibung. Es war ein völliger Zusammenbruch. Wilde, regellose Flucht. Was das heißt, weiß nur der, der’s mitgemacht hat.“

Auf die Grenzziehung hatte dieser Sieg in der „Nachspielzeit“ des Krieges keinen Einfluss mehr, sagt Buchautor Stefan Wedrac, Historiker an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, im FURCHE-Gespräch. Den Anspruch auf den südlichen Teil Tirols bis zur Brenner-Grenze hatte sich Italien bereits vor Kriegseintritt in einem Geheimvertrag mit den Alliierten in London 1915 gesichert. Die Leidtragenden des verfrühten Befehls zum Waffenstillstand, sagt Wedrac, waren die 380.000 Soldaten, die in italiwahrscheinliche enische Gefangenschaft gerieten. Am 11. November 1918 standen die Italiener am Brenner. Keine Woche später erreichten sie Innsbruck. Der Waffenstillstandsvertrag gab Italien das Recht dazu. Die Unterschiede zwischen den Besatzungszonen waren aber groß. Im Trentino traten die Italiener als Befreier auf. Die Einheimischen waren nicht ungeteilt dieser Meinung, wie ein Bürger Cortina d’Ampezzos schimpfte: „Der Friede war endlich wieder da, und unsere Brüder kamen auch wieder heim. Aber was für ein Friede! ,Die fressen uns alles auf‘, wurde allgemeiner Gedanke, nicht nur der alten, sondern sogar der jungen Generation.“ Für die Besetzung der deutschsprachigen Teile Tirols war entscheidend, ob es sich um das Gebiet nördlich oder südlich des Brenners handelte. In Nordtirol war immer nur ein kurzes Interregnum geplant. Am Ziel der dauerhaften Übernahme Südtirols ließ die italienische Regierung aber keinen Zweifel aufkommen. Nach „Alto Adige“ kamen die Italiener, um zu bleiben.

Die nationalistische These #

Diese Übersetzung der Bezeichnung „Hochetsch“ ins Italienische und die Gleichsetzung mit Südtirol stammt vom italienischen Nationalisten Ettore Tolomei. Den Namen leitete er von der französischen Benennung des „Départements des Haut Adige“ im napoleonischen Königreich ab, erklärt Autorin Marion Dotter gegenüber der FURCHE das Vorgehen des „Vaters der Brennergrenze“ und „Totengräbers eines österreichischen Südtirols“. In einer Art nationalistischer Steinbruchexegese brach sich Tolomei aus historischen, geografischen, sprachwissenschaftlichen und kulturellen Quellen jene Stücke heraus, die ihm zur Bekräftigung seiner These vom immer schon italienischen Südtirol dienten. 1904 bestieg er bereits den an der Grenze zwischen Südtiroler Ahrntal und Salzburg stehenden Klockerkarkopf, gab dem Berg den Namen „Vetta d’Italia“ (Spitze Italiens) und nahm den für ihn „nördlichsten Gipfel Italiens“ für das Königreich in Besitz.

Vom Erfolg seiner kruden Geschichts- und Geografieklitterung war Tolomei wohl selbst nicht ganz überzeugt. Sonst hätte er nicht zu Kriegsende bekannt: „Das Unitaliwahrscheinliche ist Wirklichkeit geworden.“ Um sogleich die Gunst der Stunde mit der Forderung nach Durchsetzung seiner großitalienischen Idee zu verknüpfen: „Dies war das erste überwältigende Ereignis: die Stimme der Geschichte. Jetzt muß noch die militärische in einen endgültigen Besitz umgewandelt werden.“ In der Militärverwaltung in Person des Gouverneurs Pecori Giraldi fand der nationalistische Heißsporn jedoch seinen Meister. Giraldi stemmte sich erfolgreich gegen Tolomeis „Brecheisenmethoden zur radikalen Italienisierung Südtirols“, sagt Wedrac und gemeinsam mit seiner Mitautorin Dotter attestiert er dem Militärgouverneur „gemäßigt, tolerant und sehr einfühlsam“ mit den deutschsprachigen Südtirolern umgegangen zu sein. Von Bremsklotz Giraldi ließ sich Tolomei jedoch nicht lange aufhalten. Bald fand er politische Heimat bei den Faschisten. Dort stießen seine Ideen auf offene Ohren und wurden im Rahmen der faschistischen Südtirolpolitik folgender Jahrzehnte konsequent umgesetzt.

Feilschen um jeden Meter #

Eher schleppend ging die Arbeit des österreichisch-italienischen Grenzregelungsausschusses ab 1919 voran. Die italienische Vorgabe, den Grenzverlauf nach der Wasserscheide auszurichten, war leichter gefordert als vor Ort umgesetzt. Marion Dotter bestätigt, dass dabei um jeden Meter gefeilscht wurde. Der Dachfirst des Postgasthofes, gab ein Bürger der Gemeinde Brenner zu Protokoll, „war Wasserscheide – ein auf die Südseite des Daches fallender Tropfen gehörte der Adria, und der knapp neben ihm auf die Nordseite des Daches gefallene Tropfen dem Schwarzen Meere“. Am Ende nützten aber selbst die schlüssigsten Zeugenaussagen nichts. Italien wurde als Kriegsgewinner das ganze Dach und noch einiges darüber hinaus zugesprochen.

Die 100-jährige Geschichte der Brennergrenze bis heute bestätigt eindrucksvoll die drei Grenzen- Thesen des Marburger Politikwissenschafters Wilfried von Bredow: „Erstens: Grenzen sind meist konstruiert und nicht ‚natürlich‘; zweitens: Grenzen gelten nicht auf ewig – und drittens: Es gibt keine vorprogrammierte Entwicklung hin zu einem Verschwinden von Grenzen.“

Viertens möchte man hinzufügen: Es gibt umgekehrt keine Garantie, dass verschwundene Grenzen nicht wieder auftauchen. „Die bauliche Maßnahme“, der Begriff einer Ex-Innenministerin für einen Grenzzaun am Brenner, inspirierte Filmemacher Nikolaus Geyrhalter zu einem Dokumentarfilm dieses Titels über die Grenzkontrollen am Brenner. Der Film spielt 2017. Der Grenzzaun am Brenner wurde, im Gegensatz zu Nickelsdorf im Burgenland und Spielfeld in der Steiermark, auch wegen des Einspruchs der Landeshauptleute Nord- und Südtirols nie aufgestellt. In der Schlussszene des Films öffnen Polizisten einen Container. Zu sehen sind Zaunpfosten und Maschendraht- Bündel. Geyrhalter fragt: „Das ist die bauliche Maßnahme?“ Ein Polizist bejaht: „Und hoff ma, dasch sie do bleibt.“

Bild 'Buchcover'

Der hohe Preis des Friedens.

Die Geschichte des Teilung Tirols 1918 bis 1922.

Von M. Dotter,

S. Wedrac Tyrolia 2018

344 Seiten, geb., _ 27,95s

DIE FURCHE, 22. November 2018