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Das tragische Volk#

Von Hans Prager

Gestaltet und bewegt werden die Völker von der Kraft des unstillbaren Wunsches, zum Ende zu gelangen, und diese Kraft ist es wieder, die sich zu gleicher Zeit ständig des Endes erwehrt, — diesen großartigen Gedanken, der für alles Daseiende gleichermaßen gilt, spricht Dostojewski In seinen „Dämonen" aus. Wenn nun ein Volk in besonderer Weise von der Geschichte die Aufgabe erhalten hat, diese ungeheuere Spannung, den über alles Begreifen gehenden Gegensatz vom „Verlangen nach dem Ende", nach der Erlösung und vom Kampfe gegen diese Auflösung irdischen Tuns seelisch in sich zu erfahren, gesellschaftlich zu erleiden und politisch zu verwirklichen, so ist in erster Linie als diese Nation die russische zu nennen. Grenzenlos wie die Tiefebene, auf der es lebt, wirkt des Russentums Gottessehnsucht in seiner Seele. Reich entströmen den verborgenen Quellen die Fluten der Liebe, sie bewässern ein Land voller Unwirklichkeit, geschaffen von den Träumen zukünftiger Heilshoffnung. Je näher aber sie dem "Ende" entgegenzukommen scheinen, um so stärker wird der Gegenwille, der diese Gewässer zum Stauen bringt. So wird dann die Flut nach rückwärts gedrängt, sie überströmt alles und sucht nun "sofort" die Liebe noch in dieser Welt auszubreiten. Weil Naturereignisse nicht nach der Zeit fragen, die sie benötigen, um ihre Aufgabe zu vollführen, so fragt der Russe, der im Guten wie im Bösen eine elementare Erscheinung ist, nicht danach, ob nicht etwa stetige Entwicklung dazu nötig sei, wenn das letzte Ziel erreicht werden soll. Aus dem Verlangen, sofort das Himmelreich auf Erden zu erhalten, wird die bewußte Absicht, die blutige Gewalt „einstweilen" der Liebe überzuordnen, da mit jener rascher ans Ende gelangt werde. Dieser vom „Geiste des Antichrist" begleiteten Lebensmeinung jedoch widerstreitet immer wieder die auch heute noch im russischen Volke lebende Jenseitshoffnung und Liebeskraft; und so ist dieses Volk unablässig gequält und aufgewühlt vom Kampfe, den die Glieder des größten Gegensatzes gegeneinander führen. Immer will der Russe, rascher und leidenschaftlicher als ein anderes Volk, zum Ende gelangen, zu irgendeinem, und immer wird er in diesem Verlangen von einer gewaltigen Gegenkraft gehindert. Das ist tragisches Volksdasein.

„Das Land der Russen mit der Seele suchend" — so könnte man vom Europa dieser Tage sagen, das mit einem nicht unbeträchtlichen Teil seiner geistigen und sonstigen Neigungen Rußland — das alte wie das neue — beobachtet und erforscht. Die Literatur über dieses Land wächst ins Ungemessene. Besondere Erwähnung nun verdient die kleine, tiefsinnige und inhaltsreiche Schrift des bedeutenden Rußlandforschers Karl Nötzel, von der wir hier sprechen wollen. Sie ist in der von Prof. Ungerer herausgegebenen Sammlung „Wissen und Wirken" unter dem Titel „Die russische Leistung" bei G. Braun in Karlsruhe erschienen. Vieles erklärt sie, was ansonsten vom Land des Bolschewismus im Dunklen bliebe. Nötzel gibt den schönen Auspruch Rilkes wieder, der — als er am ersten Tage seines Aufenthaltes in Moskau erwachte — das Gefühl hatte, „im Heimatlande der Menschenseele" zu weilen. Dies ist wohl wahr, denn die Liebe lebt stark dort im einfachen Volk — wie die Grausamkeit, die persönliche Würde und die Achtung wie die Erniedrigung und Verkommenheit, ja diese Gegensätze leben in dem gleichen Menschen! Die unendliche Ebene, das gleiche Schicksal, die selbe Frommheit machen alle Menschen hier gleich vor Gott und deshalb vergewaltigt einer so leicht den andern, weil sich kein Russe vorstellen kann, der Nebenmensch könne und dürfe anders sein als er. Vor dem Zaren waren alle Russen das despotisch zu regierende Volk; vor der Tyrannei der Bolschewiken sind sie alle die „Masse". Weil der Russe seit je in qualvoller Unterdrücktheit lebte, war es ihm möglich, innerlich unabhängig von materiellen Gütern zu werden. Der Kampf gegen das „Privateigentum", religiös und politisch, spielte immer in der Gesinnung des russischen Volkes eine große Rolle und daraus ist wieder die Macht zu begreifen, welche die Revolution auf das Volk ausüben konnte. Aus diesen und noch anderen Gründen kam es dazu, daß in Rußland das „größte Gesellschaftsexperiment der Weltgeschichte" angestellt werden konnte, denn die innere Labilität des Russen und die äußere Erniedrigung, die er durch Jahrhunderte erdulden mußte, waren diesem Versuche günstig. Sehr fein sagt Nötzel, daß es „grundfalsch wäre anzunehmen, die russische Revolution habe mit dem Bolschewismus ihr Ende gefunden. Offenbar ist sie erst an ihren mechanischen Endpunkt geraten. Nunmehr wird sie die Umkehrung nach dem Geistigen vornehmen — und sich erst dabei ihren wahrer Zielen nähern". Auch der Aufbau meines Buches „Die Weltanschauung Dostojewskis" stellt die „dämonische" Phase im Russentum als eine des Ueberganges zu seiner wahren Bestimmung hin. — Worin besteht nun die Besonderheit der russischen Geistesleistung? Der Russe ist — so antwortet Nötzel — der „wirklichkeitsnahe" Mensch, obwohl er und vielleicht weil er — wie kaum ein anderer — gleichzeitig romantischer Träumer und Utopist ist. So will er Wissen und Leben vereinigen und dies sofort. Daher auch der irrsinnige Sprung, den die russischen Sozialisten über alle Entwicklung hinweg gemacht haben. An diesem „sofort" mußten sie scheitern. — Entscheidend war für dieses sonderbare und tragische Volk, dessen Wesensart der abendländischen doch wieder so fremd ist, daß die russische Leibeigenschaft wohl die entsetzlichste Sklaverei war, welche in der zivilisierten Welt vorkam. Die Leibeigenen konnten einzeln, ohne Land und Familie, verkauft, nach Sibirien verschickt und gefoltert werden (das Verbot, sie zu töten, stand bloß auf dem Papier). "Und dabei war die Leibeigenschaft eine Sklaverei unter Christenmenschen — eine Sklaverei nach Entdeckung der Menschenseele!" Immer war aber dabei die Leibeigenschaff eine ununterbrochene glimmende Revolution. Es spricht Bände, daß selbst die Geliebte des mächtigsten Mannes im despotischen Rußland, Alexander I., (Arakschejeff) von ihren Leibeigenen ermordet wurde, ebenso Tolstois Großtante und Dostojewskis Vater. Diese Sklaverei war das „soziale Verhängnis" Rußlands, die „Seelenwunde", an der der russische Volkskörper zwei Jahrhunderte lang litt.


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