Zeit für Gödel#
Liegt die Zukunft in der Vergangenheit? Nach den Theorien des Logikers Kurt Gödel lässt sich immerhin in die Vergangenheit reisen. An der Universität Wien findet ab Donnerstag eine Tagung zu seinem geistigen Erbe statt.#
Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wiener Zeitung, 23. Juli 2019
Von
Karl Sigmund
"Gödel war der Einzige, der mit Einstein auf Augenhöhe verkehrte." So beschrieb der britisch-amerikanische Physiker Freeman Dyson die Lage am Institute for Advanced Study in Princeton in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Albert Einstein war damals schon längst eine Legende. Der in Brünn geborene Kurt Gödel war um 27 Jahre jünger und außerhalb von Fachkreisen gänzlich unbekannt.
Unter Experten freilich galt Gödel bereits als "Entdecker der bedeutsamsten mathematischen Erkenntnis des Jahrhunderts" (laut Urkunde seines Ehrendoktorats der Universität Harvard) und als "der größte Logiker seit Aristoteles" (in den Worten Einsteins). Tagtäglich gingen die beiden Emigranten im schönen Wald hinter dem Institut spazieren, lebhaft plaudernd, und niemand wagte zu stören. "Warum wohl Einstein an den Gesprächen mit mir Gefallen fand?", fragte sich Gödel später. Er selbst vermutete, dass es daran lag, dass er häufig entgegengesetzter Ansicht war und keinen Hehl daraus machte.
Kurt Gödel war Logiker, Mathematiker, Philosoph - und obendrein ein hervorragender Physiker. Tatsächlich wählte er zunächst das Fach Physik, als er 1924 in Wien zu studieren begann, und schwenkte erst später, unter dem Einfluss des Wiener Kreises, zum Grenzbereich zwischen Mathematik und Philosophie hinüber. 1940 emigrierte er mit seiner Frau Adele Nimburskyin die USA. Seine physikalischen Interessen vergaß er nie. Als er einige Jahre später aufgefordert wurde, für einen Festband über Albert Einstein etwas Philosophisches über Kant und die Relativitätstheorie zu verfassen - an und für sich eine Routineaufgabe -, da vertiefte er sich mit der ihm eigenen Genauigkeit in die mathematischen Grundlagen der allgemeinen Relativitätstheorie.
Sich selbst etwas antun#
Die allgemeine Relativitätstheorie war während des Ersten Weltkriegs von Albert Einstein geschaffen worden. Sie beruhte auf einer einfachen Beobachtung, dass nämlich die schwere und die träge Masse eines Körpers gleich groß sind. (Die träge Masse ist ein Maß dafür, wie sehr sich ein Körper einer Bewegungsänderung widersetzt, die schwere Masse gibt an, wie schwer Gravitation auf ihn wirkt.) Daraus folgerte Einstein sein Äquivalenzprinzip: Schwerkraft und Trägheitskraft müssen ein und dasselbe sein.
Von diesem philosophischen Postulat zu einer physikalischen Theorie führte ein dornenvoller Weg: Die mathematischen Formeln - die Einsteinschen Feldgleichungen - sind ungemein anspruchsvoll, die physikalischen Folgerungen - eine Abweichung vom klassischen Weltbild Isaac Newtons zur Schwerkraft und Mechanik - kaum messbar. Zunächst konnte Einstein nur auf eine Anomalie in der Umlaufbahn des Planeten Merkur verweisen.
Das änderte sich schlagartig im Jahr 1919 anlässlich einer Sonnenfinsternis. Britische Expeditionen wiesen nach, dass die von Einstein vorausgesagte Ablenkung (Biegung) von Lichtstrahlen durch das Schwerfeld der Sonne tatsächlich stattfindet. Die Resonanz auf diese Entdeckung war überwältigend. Einstein wurde über Nacht zum Superstar. Seitdem sind die Vorhersagen der allgemeinen Relativitätstheorie unzählige Male bestätigt worden, unter anderem kürzlich beim Nachweis der Gravitationswellen. Experiment um Experiment führte immer wieder zum selben Refrain: Einstein hat recht.
Umso erstaunlicher wirkt deshalb, was Kurt Gödel vor 70 Jahren veröffentlichte: Er präsentierte mathematische Lösungen der Einsteinschen Feldgleichungen, die ein rotierendes Universum beschreiben. Ein rotierendes Universum dreht sich nicht etwa um eine Achse, sondern gewissermaßen in jedem Punkt. Zur besseren Vorstellung ein vereinfachtes Beispiel: Auf einem Tanzboden tanzen viele Paare Walzer. Jedoch drehen sich dabei immer nur um die eigene Achse, anstatt sich - wie bei dieser Tanzform üblich - gleichzeitig auch über das Parkett zu bewegen. Dennoch: Obwohl jedes Paar nur um sich rotiert, haben alle beim Blick auf die anderen den Eindruck, dass sich alle um sie drehen. Gödels eindringliche Folgerung: In so einem Universum kann man in die Vergangenheit reisen.
"Back to the Future"#
Das bringt natürlich das ganze Gefüge von Ursache und Wirkung durcheinander. Der übliche Begriff der Gegenwart wird aufgehoben: Es gibt keine überall geltende Gegenwart. Im Gödelschen Universum kann ein Zeitreisender seinem jüngeren Selbst begegnen und, wie der Logiker schreibt, "diesem etwas antun" - also etwa, es umbringen. Dann kann dieses jüngere Selbst natürlich nicht auf Zeitreise "in die Zukunft" gehen, kann sich also nicht begegnen und sich daher doch nichts antun. Somit steht dem Antritt der Zeitreise eigentlich nichts im Wege, aber dann kann es ja doch zur fatalen Begegnung mit dem jüngeren Selbst kommen, und dann - also dann... Spätestens hier verheddern sich die Gedanken rettungslos!
Das Gödelsche Universum beschreibt allerdings nur eine mögliche Lösung der Einsteinschen Gleichungen. Bis dato weist nichts darauf hin, dass unser real existierendes Universum rotiert. Einstein selbst und mit ihm fast alle Experten für Relativitätstheorie vermuten, dass es ein physikalisches Prinzip geben muss, das Zeitschleifen ausschließt - man also nur in die Zukunft und nie in die Vergangenheit reisen kann. Welches, weiß zwar niemand - Hauptsache, es beruhigt: Es wird schon nichts passieren. Allerdings: Ganz sicher kann man nicht sein.
Dieser Hauch von Fremdartigkeit, ja von Unheimlichkeit ist ein Markenzeichen von Gödel. Schon als 25-Jähriger hatte er gezeigt, dass es im Rahmen einer widerspruchsfreien mathematischen Theorie nicht möglich ist, deren eigene Widerspruchsfreiheit zu beweisen. In jeder Theorie gibt es Aussagen, die weder beweisbar noch widerlegbar sind, jedenfalls solange man innerhalb der Theorie verbleibt, also nur jene Werkzeuge verwendet, die man an Bord mitführt. Zu diesen Aussagen zählt, dass sich kein innerer Widerspruch in der Theorie verbirgt. Kein vernünftiger Mensch glaubt, dass die Mathematik widersprüchlich ist. Es wird schon nichts passieren. Nur beweisen kann man es nicht. Also wieder: Ganz sicher kann man nicht sein.
Ein Hauch von Unheimlichkeit#
Wichtiger noch als die Frage, ob Zeitreisen möglich sind, war für Gödel die Frage, was die Zeit denn überhaupt ist. Eine Illusion vielleicht? Das klingt wie Metaphysik, und Metaphysik war verpönt innerhalb der radikal modernen wissenschaftlichen Avantgarde, in deren Schoß sich Kurt Gödel bewegte, ob im Wiener Kreis oder am Institute for Advanced Study in Princeton. Er selbst war bezüglich Metaphysik wieder einmal anderer Ansicht: Er verachtete sie nicht, sondern wollte vielmehr für die Metaphysik das tun, was Newton für die Physik getan hatte: So wie Newton die Grundlagen der Physik erdacht und diese damit zu einer felsenfesten Wissenschaft gemacht hatte, wollte Gödel ein metaphysisches Weltbild schaffen.
Nach dem Tod seines väterlichen Freundes Albert Einstein kapselte sich Kurt Gödel immer mehr ab, geplagt von psychischen "Zuständen", wie er klagte, von Todesahnungen, Verfolgungswahn und Vergiftungsängsten. Als seine Frau, eine Wienerin, die ihn fast ein halbes Jahrhundert lang geliebt und betreut hatte, in ein Krankenhaus eingeliefert werden musste, starb er zu Hause an Unterernährung: Verhungert aus Angst, vergiftet zu werden. Er hinterließ unzählige Aufzeichnungen in einer heute kaum mehr lesbaren, stenografischen Schrift. Ihre Entzifferung findet statt. Sie verspricht viele Überraschungen.
Ein Kollege von Gödel und Einstein fasste zusammen: "Ihre Persönlichkeiten unterschieden sich auf beinahe jede Weise. Aber eine fundamentale Eigenschaft war ihnen gemeinsam: Beide gingen voller Schwung und ohne Umschweife auf die zentralen Fragen los."
Liegt die Zukunft in der Vergangenheit? Nach den Theorien des Logikers Kurt Gödel lässt sich immerhin in die Vergangenheit reisen. An der Universität Wien findet ab Donnerstag eine Tagung zu seinem geistigen Erbe statt.
Karl Sigmund ist Mathematiker an der Universität Wien und Autor des preisgekrönten Wissenschaftsbuches "Sie nannten sich der Wiener Kreis".