Die Gefahr aus dem Wasser #
Im 19. Jahrhundert war die Cholera die Angstkrankheit Wiens. Schon damals galten öffentliche Eingriffe und Investitionen als zentral für die Gesundheit. Ein Rückblick. #
Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wochenzeitschrift DIE FURCHE (16. April 2020)
Von
Gertrud Haidvogl und Verena Winiwarter
Vor rund 400 Jahren erblickte in London der spätere Tuchhändler und Amtsträger John Graunt das Licht der Welt. Seine „Mortalitätsbeobachtungen“ sind die erste demografische Auswertung von Todesnachrichten, die er über mehrere Jahrzehnte sammelte und sortierte. Die Todesursachen reichten von Hinrichtungen und Unfällen bis zu Skorbut, Masern und dem heute unverständlichen „Anhalten des Magens“. Wobei sich die Vorstellung, was eine tödliche Krankheit sein könnte, seit damals gewandelt hat: Jedes Jahr starben etwa mehrere Einwohner an „Lethargie“, ein weiteres Dutzend starb an „Trauer“ und bis zu 20 an „Lunatick“. 1648 starb jemand an „Juckreiz“. Das verwundert aus heutiger Sicht dann doch.
Die Pest, die 1636 rund 10.400 Menschen tötete, und die Tuberkulose, die von 1647– 1657 fast 30.000 Todesopfer forderte, führen die Statistik an. Die damalige Einwohnerzahl Londons betrug etwa 350.000, die Todesraten waren also durchaus dramatisch. Mehrfach war die Pest seit dem 14. Jahrhundert über Europa hereingebrochen: Sie war die Angstkrankheit jener Tage und wurde daher genau verfolgt. Die Pest wurde durch direkten Kontakt übertragen, Flöhe und Ratten spielten dabei eine wichtige Rolle.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde freilich die Cholera, die es zuvor nur auf dem indischen Subkontinent gab, zur neuen Angstkrankheit. Es handelt sich dabei um eine akute Durchfallinfektion, die durch mit dem Bakterium Vibrio cholerae verseuchtes Wasser oder Lebensmittel übertragen wird – sich also anders als die Pest verbreitet. Bis heute ist die Cholera global endemisch. Jüngste Schätzungen gehen von bis zu vier Millionen Fällen pro Jahr und bis zu 143.000 Toten weltweit aus. Während „alte“ Krankheiten (zwar regional beschränkt, jedoch dauerhaft in der Welt verbreitet) heute durch Impfungen und Medikamente im Zaum gehalten werden können, breiten sich hier neue Erreger epidemisch aus.
Zunächst war die Cholera pandemisch: Sie erfasste von 1817–1824 Südostasien, den Mittleren Osten, schließlich auch Ostafrika und Kleinasien. Truppenbewegungen der britischen Armee, der Fernhandel sowie der Ausbruch des Vulkans Tambora 1815, der zu mehr Monsunregen, damit zu Überschwemmungen und einem massiven Choleraausbruch auf dem indischen Subkontinent führte, gelten als Ursachen. 1830 brach die Epidemie in Moskau aus und gelangte mit russischen Soldaten nach Warschau. Von Händlern entlang der Schifffahrtswege weitergetragen, breitete sie sich danach bis Hamburg und weiter aus. Heute „reisen“ Krankheitserreger wie SARS-CoV-2 durch internationale Flugverbindungen noch rascher von einem Kontinent zum anderen.
Parallelen zur heutigen Situation #
Die Nachricht von einer tödlichen Seuche erreichte 1831 bald auch Österreich. Am Fluss Sola wurde von dessen Einmündung in die Weichsel bis zur ungarischen Grenze ein Sanitätskordon errichtet. Die Cholera ließ sich aber dadurch nicht stoppen. Unaufhaltsam näherte sie sich der Stadt, die sich mit Quarantäne-Stationen in der Umgebung und an den Stadtgrenzen zu schützen versuchte. Die Wienerinnen und Wiener kannten in den 1820er Jahren eine Erkrankung mit dem Namen „Cholera“, bei dieser handelte es sich aber um einen relativ harmlosen Brechdurchfall. Die asiatische Cholera war dagegen neu: Sie führte oft schnell unter Bauch- und Muskelkrämpfen zum Tod durch Austrocknung. Dass sie einem bekannten, harmloseren Krankheitsbild ähnelte, aber viel gefährlicher war, vergrößerte die Unruhe begreiflicherweise; hier gibt es Parallelen zur heutigen Situation. Auch die Unsicherheit über Leitsymptome und Ausbreitungswege ist Medizin- und Umwelthistorikern vertraut. Ebensowenig neu ist das mediale Echo. Das Londoner Gentleman’s Magazine etwa berichtete 1831 über die damalige Angstseuche: „Die Cholera verwüstet das österreichische Territorium; in Wien herrscht totale Panik; der Hof und der gesamte Adel haben die Hauptstadt verlassen; auch der Bankier Rothschild und alle wichtigen Kaufleute haben ihre Betriebe geschlossen und den Ort verlassen.“
Im August 1831 hatte Wien den ersten Cholerafall, mitten im Stadtzentrum. Der Ansteckungsweg ließ sich nicht klären. Insgesamt starben während dieser ersten Epidemie in der damals circa 400.000 Bewohner zählenden Stadt 4158 Menschen. Nach einem neuerlichen Ausbruch 1836 mit mehr als 2300 Toten erlebte Wien bis 1873 vier weitere Krankheitswellen. In jener von 1854/55 waren sogar mehr als 5000 Tote zu verzeichnen; die Sterblichkeit erreichte in Teilen des Bezirks Wieden mehr als ein Prozent. Die letzte Epidemie 1873 forderte 2854 Opfer. In diesem Jahr fand in Wien die Weltausstellung statt. Viele auswärtige Besucher verließen fluchtartig die Stadt, da die ersten Fälle im „Weltausstellungshotel“ in der heutigen Nordbahnstraße festgestellt wurden.
Im Gegensatz zu heute tappten die Ärzte damals im Dunkeln, was die Ansteckungswege anging. Als krankheitsfördernde Umstände galten zum Beispiel feuchtes und kaltes Wetter, Aufenthalt in sumpfigen Gegenden oder in engen, überfüllten, stickigen Wohnungen, ebenso wie mangelnde Körperhygiene. Der tatsächliche Übertragungsweg, kontaminiertes Trinkwasser, wurde nirgends erwähnt. Denn eine Infektion über Fäkalien und damit verschmutztes Wasser zogen die Ärzte nicht in Erwägung. Noch 1859 urteilte der Wiener Pharmakologe Ferdinand Hauska: „Tatsache ist, dass wir von der Cholera nur die Symptome kennen; ihr Wesen, ihre Entstehungsursachen sind uns so unbekannt, wie die Therapie derselben.“
Die Cholera kam, was damals niemand wusste oder wissen wollte, mit dem Wasser. Die Erreger von sogenannten wasserbürtigen Krankheiten fanden in den Städten des 19. Jahrhunderts gute Lebensbedingungen vor. Abfälle und Abwässer wurden in Bächen und Gewässern entsorgt und blieben hier bei niedrigem Wasserstand oft über lange Zeit an den Ufern liegen. Die ab 1753 in den Wiener Vorstädten geforderten Hauskanäle verschärften die Gewässerverschmutzung. Wurde davor der Senkgrubeninhalt zu Deponien gebracht, landete er nun direkt in den Gewässern. Kleinere Hochwässer spülten die Abfälle fort, größere Überschwemmungen aber trugen die Krankheitserreger oberflächig in die Hausbrunnen. Den Überschwemmungen folgten daher oft wassergebundene Krankheiten, mitunter mit epidemischen Ausmaßen.
Rettung durch Hochquellenwasser #
1854 hatte der englische Arzt John Snow gezeigt, dass durch die Sperre eines einzelnen Brunnens in London die Cholera gestoppt werden konnte. Der italienische Anatom Filippo Pacini beschrieb das Bakterium Vibrio cholerae als Erreger der Krankheit. Im Londoner Abwasser fanden sich Mikroorganismen, so konnte eine Verbindung zur Cholera im Brunnenwasser hergestellt werden. Doch die Vertreter der Umwelttheorien, die üble Dünste mit ansteckenden Partikeln als Ursache ansahen, blieben im Expertenstreit erfolgreich. Sie bestimmten die Maßnahmen zur Bekämpfung der Cholera, mit denen sie durchaus erfolgreich waren. Da nach der damals verbreiteten Miasmen-Theorie verfaulender organischer Abfall, verschmutzte Straßen und unreine Wohnungen aufgrund ihres Gestanks als krankheitserregend betrachtet wurden, galten hygienische Verbesserungen als wirksames Mittel gegen Epidemien. Auch eine falsche Theorie kann zu wirksamen Maßnahmen führen.
Auf die faulig riechenden Wienerwaldbäche als mögliche Quelle des Übels wurde die Wiener Stadtregierung während der ersten Cholera-Epidemie rasch aufmerksam. Am Wienfluss wurden ab 1831 entlang beider Ufer Kanäle gebaut, die 1839 in Betrieb gingen und „Cholerakanäle“ genannt wurden. Doch die Kanäle hatten einen gravierenden hygienischen Mangel: Bis zur Errichtung der Ersten Hochquellenleitung 1873 gab es kein Wasser zum Spülen. Der Unrat und die Exkremente blieben auch wegen des geringen Gefälles oft lange liegen. Die Erste Hochquellenleitung brachte für die Wiener Bevölkerung daher eine heute kaum vorstellbare Verbesserung der Lebensqualität. 1900 wurden bereits mehr als 85 Prozent der Häuser mit Hochquellenwasser versorgt. Endlich sank in fast allen Bezirken bei wasserbezogenen Krankheiten die Sterblichkeit.
Die Autorinnen lehren an der BOKU Wien.
Wasser Stadt Wien. Eine Umweltgeschichte
Von Gertrud Haidvogl, Verena Winiwarter u.a.
ZUG 2019
496 S., geb. € 39,–