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Einmal noch Abenteuer #

Sarah Braun hat ein Buch über ihr Leben mit „ALS“ geschrieben – und für die FURCHE das deutsche Urteil zum selbstbestimmten Sterben kommentiert. Ein Grenzgang zwischen Leben und Tod. #


Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wochenzeitschrift DIE FURCHE (12. März 2020)

Von

Doris Helmberger


Am Ende hoch hinaus. Einmal noch hat sich Sarah Braun eine Wanderung in ihren geliebten Bergen gewünscht. Ihre langjährigen Freunde haben sie dafür auf Schultern getragen.
Am Ende hoch hinaus. Einmal noch hat sich Sarah Braun eine Wanderung in ihren geliebten Bergen gewünscht. Ihre langjährigen Freunde haben sie dafür auf Schultern getragen.
Foto: Markus Frühmann

Ich muss sterben. Ich bin 28 Jahre und muss sterben. Ich habe eine unheilbare Nervenkrankheit, die meinen Körper nach und nach lähmt – bis hin zur kompletten Bewegungsunfähigkeit. Der Tod kommt zu schnell und zu langsam zugleich. Zu schnell, weil ich eigentlich noch mein ganzes Leben vor mir habe. Zu langsam, weil es qualvoll ist, die eigene Selbstständigkeit zu verlieren. Ich bin bereits ein Vollzeitpflegefall: Ich kann nicht mehr gehen, nicht mehr meine Arme heben, und auch sprechen kann ich nicht mehr. Das Leben und was ein Leben lebenswert macht, muss ganz neu betrachtet werden. Jeder Mensch hat eine eigene Schmerzgrenze, und wie lange das eigene Leben als lebenswert empfunden wird, ist höchst individuell. Umso wichtiger ist das Recht auf Selbstbestimmung. Wie weit möchte ich gehen? Wie viel Leid möchte ich mir zumuten? Wann darf ich gehen?

Es ist der 2. März 2020, als Sarah Braun für die FURCHE diese Sätze schreibt. Sie kann sie nicht nicht mehr tippen. Sie kann sie nicht diktieren. Sie kann sie nur per Augenschlag verewigen – mit einem elektronischen Kommunikator, den sie mit ihren Pupillen steuert. Es ist der letzte Mitteilungskanal, den die so gewitzte, junge Frau noch zur Verfügung hat. Alle anderen Optionen hat ihr die „amyotrophe Lateralsklerose“ (ALS) längst geraubt.

Sarah Braun möchte Stellung zum Thema „Sterbehilfe“ beziehen – diesmal aus Sicht einer Betroffenen: Am Aschermittwoch, dem 26. Februar, hat das deutsche Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe das seit 2015 geltende Verbot geschäftsmäßiger „Sterbehilfe“ für verfassungswidrig erklärt – und ein generelles „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ postuliert (vgl. die letztwöchige FURCHE, das Interview auf der rechten Seite sowie den Gastkommentar auf Seite 15). Die Folgen sind weitreichend – auch und besonders für Menschen wie Sarah Braun. Würde sie selbst davon Gebrauch machen? Ich habe noch nicht entschieden, wie viel ich von dieser Krankheit noch miterleben möchte, schreibt sie mit ihren Augen. Aber immer öfter komme ich an den Punkt, wo ich den Tod herbeisehne.

Diagnose als Todesurteil #

Es ist am 23. Juni 2016, als sie erst 24-jährig die Diagnose ALS erhält. Anfangs haben sich bei ihr nur kleine Muskelschwächen an der Hand gezeigt, beim Mountainbiken mit Freunden rund um ihre zweite Heimat Wien. Hier hat die Bayerin an der Uni Bildungswissenschaft studiert, hier findet sie Freunde und treibt jede Menge Sport. Sie selbst glaubt anfangs an einen eingeklemmten Nerv. Doch schließlich kommt per Brief von einem konsultierten Arzt die Diagnose. Es ist ein gefühltes Todesurteil.

Ein bis zwei Personen pro 100.000 Menschen erkranken jährlich an der neurodegenerativen Erkrankung ALS. Ihre Ursachen sind unklar, Heilungsmöglichkeiten gibt es bislang nicht, nur Symptomkontrolle ist möglich. Ein bis drei Jahre beträgt ab der Diagnose die durchschnittliche Lebenserwartung. Der 2018 verstorbene britische Astrophysiker Stephen Hawking war einer der bekanntesten Patienten. Verzweifelt wenden sich Sarah Braun und ihre Familie ans Krankenhaus Agatharied nahe München, das akademische Lehrkrankenhaus der Ludwig-Maximilians- Universität. Stefan Lorenzl, Neurologe und Stiftungsprofessor für Palliative Care an der Medizinischen Privatuniversität Paracelsus in Salzburg, hat hier 2014 eine eigene Abteilung für Neurologie und Palliative Care aufgebaut. Bei ihm erhoffen sich die Brauns die Zerstreuung ihre Ängste – doch sie erhalten endgültig Gewissheit.

Was bedeutet ein solches Leben mit Ablaufdatum? Was heißt es für die betroffenen Menschen – aber auch für jene, die sie dabei begleiten? Lebt man jetzt noch oder stirbt man nur? Sarah Braun beginnt, ihren eigenen Sterbeprozess zu reflektieren – und darüber eine Dissertation zu schreiben. Auf Anregung ihrer Wiener Professorin Andrea Strachota bittet sie 24 Freunde und professionelle Begleiter, auf vier Fragen zu antworten: „Wie ist es für dich, mich mit meiner Erkrankung zu begleiten?“ „Was bedeutet es für dich, mich in meinem Sterbeprozess zu begleiten?“ „Welche Emotionen und Gefühle rufen unsere gemeinsamen Erfahrungen in Dir hervor?“ Und: „Welchen Einfluss nimmt dies alles auf dein Leben?“

Unter dem Titel „Leben und gleichzeitig sterben. Diagnose ALS“ sind die berührenden Antworten und Brauns eigene Gedanken soeben als Buch erschienen. Im Fokus steht dabei der Wert persönlicher Beziehungen – und der Kampf gegen Exklusion. „Seit Beginn meiner zum Tode führenden Erkrankung geben mir die Menschen um mich zu verstehen, dass sie mich für meinen Mut, mein Leben weiter zu gestalten, bewundern“, schreibt Braun. „Ich sehe das anders. Für mich sind sie es, die mutig sind: Sie können sich abwenden und sind nicht gezwungen, meiner Erkrankung Platz in ihrem Leben zu geben.“ Oft sind es Kleinigkeiten mit großer Wirkung, die ihr neuen Lebensmut schenken, manchmal sind es auch „wahre Heldentaten“ – etwa die gemeinsame Berg-Überquerung von Bayern bis an den Gardasee, getragen auf einer Art Sänfte (siehe Bild). Auch in die USA, nach Island und Kanada zieht es sie. „Einmal noch Abenteuer“ will sie erleben.

Doch was dann? Hier kommt wieder Stefan Lorenzl ins Spiel. „Von ihm habe ich gelernt, den Tod nicht schlimm zu finden“, schreibt Sarah Braun in ihrem Buch. „Ich glaube, in keinem Moment des Lebens spürt man das Leben mehr.“ Ein paar Mal schon sei sie in einer Klinik für alternative Heilmethoden in der Schweiz gewesen – und dort häufig von anderen gefragt worden, ob sie denn „Mitglied im Exit-Verein“ sei, wo man sich das Leben nehmen könne. „Mich zu entscheiden, meinem Leben ein Ende zu setzen, kann ich mir derzeit nicht vorstellen“, heißt es im Buch. „Jede Erfahrung ist es wert, erfahren zu werden, selbst wenn es nicht einfach ist.“

Sterbewunsch wegen Politversagen? #

Heute, ein knappes Jahr nach dieser Niederschrift, hat sich ihre Perspektive deutlich verschoben: Endlich ein Ende, meint sie am 2. März. Endlich keine Aufgabe, keine Belastung mehr für andere sein. Diese Gedanken werden besonders dominant, wenn ich mich in meiner Selbstbestimmung beraubt sehe. Die Entscheidung in Deutschland setzt genau hier an: Selbstbestimmt leben heißt auch selbstbestimmt sterben. Die Legalisierung von assistiertem Suizid in Deutschland sei für sie insgesamt ein Schritt in die richtige Richtung, allerdings müsste auch auf anderen Ebenen wie Organisation von Pflege und hinsichtlich gesellschaftlicher Aufklärung viel passieren. Die Menschen sollen den Wunsch, ihrem Leben ein Ende zu setzen, nicht verspüren, weil die Politik versagt.

Dass es dieses Versagen aber oftmals gibt, weiß ihr Arzt Stefan Lorenzl nur zu gut. Sarah Braun hat ihren elektronischen Kommunikator, ihr Tor zur Welt, mit dem sie ihre Wünsche und Ängste artikuliert, relativ bald erhalten. Und sie wird von ihren Eltern sowie einem zusätzlichen Pfleger so gut es geht umsorgt. Andere ALS-Patienten haben weniger Ressourcen - oder warten mehreren Monate auf ein Hilfsmittel. „Bei einer Lebenszeit von einem bis drei Jahren ist das schlimm“, betont Lorenzl. Manche Hospize würden auch keine ALSPatienten mehr aufnehmen, weil diese zu lange leben würden. „Aber wenn die Krankenkassen die Versorgung von Schwerkranken so zurückdrehen, dass diese sich monatelang nicht verständigen können, dann ist völlig klar, dass sie auch den Wunsch verspüren zu sterben“, meint der Arzt. Wenn ALS auch nicht heilbar sei: Die Symptome wie Atemnot könne man heute gut kontrollieren. „Doch auch hier gibt es manchmal finanzielle Einschränkungen“, so Lorenzl. „Die Würde des Menschen ist unantastbar, heißt es. Aber sie wird ständig verletzt. Und das zermürbt dann viele.“

Wie Sarah Braun hält auch Lorenzl das deutsche Urteil für positiv. Der Gesetzgeber müsse es aber „in gute Bahnen lenken“. Sein Wiener Kollege Herbert Watzke sieht das deutlich anders Was alle jedoch eint, ist der unbedingte palliativmedizinische Fokus auf Lebensqualität.

„Der Frühling ist da“, schreibt Sarah Braun am Ende ihres Buches. „Die Hummeln fliegen wieder und erinnern mich an das Mögliche im Unmöglichen. [...] Ich habe ein Fahrrad mit Rollstuhl vorne dran geschenkt bekommen, und wir wollen es ausprobieren.“ Was ihr am Ende zu sagen bleibe? „Ich habe Glück“, schreibt diese Frau. Ich darf leben und irgendwann sterben.“

Buchcover: Leben und gleichzeitig sterben. Diagnose ALS.

Leben und gleichzeitig sterben. Diagnose ALS.

Von Sarah Braun, Udo Lakovits u. Andrea Strachota Mabuse 2020

296 S.,

TB, € 23,70

DIE FURCHE (12. März 2020)


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