Franz Lehar (1870-1948)#
Mit freundlicher Genehmigung entnommen aus dem Buch: Große Österreicher. Thomas Chorherr (Hg). Verlag Carl Ueberreuter, Wien. 1985.
Franz Lehár, 1870 in Komorn in Ungarn geboren, 1948 in Bad Ischl in Oberösterreich gestorben, hat einem halben Jahrhundert auf seine Art eine unverwechselbare Note verliehen.
Die Experten für Operette behaupten seit neuestem, er sei gewiß nicht der bedeutendste Vertreter des Zeitalters der silbernen Operette - also der Zeit nach Johann Strauß und Millöcker - sondern eine ganz und gar unverwechselbare Persönlichkeit und der Schöpfer eines Operettentyps, den außer ihm auch niemand komponieren konnte.
Früher aber war man nicht dieser Ansicht, sondern durfte schon behaupten, Lehár sei der erfolgreichste, der populärste und zugleich der unglücklichste der Operettenkomponisten nach Strauß und Millöcker gewesen.
Der erfolgreichste? Die gut gezimmerte und der Wahrheit nicht zu ferne Legende berichtet von dem mäßig erfolgreichen Militärkapellmeister und Operettenkomponisten Lehár, der dringend um das Textbuch zur »Lustigen Witwe« bat, es durch Verleger wirklich vom bereits an dem Werk arbeitenden Kollegen Richard Heuberger bekam und alsbald für eine Verlegenheitspremiere Ende 1905 fertigschrieb. Und davon, daß die erste Vorstellung kein großer Erfolg des Theaters an der Wien war, daß sich jedoch nach einigen eher mäßigen Wochen allmählich die große Anteilnahme des Publikums und dann, wie Steppenbrand, eine begeisterte Reaktion der ganzen Welt einstellte. Die »Lustige Witwe« wurde wirklich überall in unzähligen Versionen gespielt, und sie wurde als eine der ersten Operetten auch verfilmt.
Seine zweite Operette in diesen Erfolgsdimensionen gelang auch nicht auf Anhieb; ehe »Das Land des Lächelns« über alle Bühnen dieser Erde ging, gab es Schwierigkeiten mit der »Gelben Jacke«, wie das Stück zuerst hieß. Nach diesen Anlaufschwierigkeiten aber war's noch einmal so wie 1905.
Vorher, zwischendurch und nachher komponierte Lehár unzählige Werke, von denen man heute entweder gar nichts mehr weiß oder zuwenig hört oder aber mit viel Respekt immer noch die Kasseneinnahmen zur Kenntnis nimmt - je nach Gusto kann man für jede Rubrik Titel nennen, ich würde »Wiener Frauen« und »Eva« und »Die Tangokönigin« zu den vergessenen Operetten zählen, würde den »Rastelbinder« und den »Zarewitsch« hoch einschätzen und schließlich zugeben, daß »Paganini«, »Friederike« und auch »Giuditta« immer noch hohe Einnahmen bringen, denn einzelne Lieder aus diesen Werken sind täglich in allen Rundfunkprogrammen zu hören und provozieren immer wieder Aufführungen der ganzen Operetten, die ja nicht alle in der Großstadt auf dem Spielplan sein müssen.
Früher also hätte man von Franz Lehár mit großer Hochachtung, aber immer innerhalb der Gattung Operette berichtet. Er kam aus einer Familie von Militärmusikern, studierte in Prag, spielte selbst in der Kapelle seines Vaters in Wien und arbeitete sich über verschiedene Stationen in der Monarchie bis zum Nachfolger seines Vaters, war Militärkapellmeister in Wien und als solcher wahrlich nicht für Marschmusik, sondern für Unterhaltungsmusik in Uniform verantwortlich. Er spielte für junge Damen beim Eislaufen, für ältere Herrschaften im Park und manchmal für Patrioten jeder Altersklasse sogar bei mili¬tärischen Prunkereignissen.
Selbstverständlich hatte er so zu komponieren, daß wenigstens einer seiner Walzer zum »Saisonwalzer« wurde und seinen und den Ruhm seiner Regimentskapelle durch Wien und damit durch die Monarchie trug. Das schien eine der vornehmsten Aufgaben der Armee um 1900. Und später? Da hatte Lehár ab 1914 wie die meisten seiner auch erfolgreichen Kollegen offenbar die Pflicht, patriotische Operetten zu komponieren und mitten im Krieg nicht nur für Ablenkung, sondern ausdrücklich für Freude am Krieg zu sorgen. Das lenkte man damals auch via Armeeoberkommando.
Von einem anderen Gesichtspunkt aus gesehen, hatte Lehár offenbar die Aufgabe, seine Konkurrenten anzuspornen. Man weiß, daß Oscar Straus versuchte, nach einem eigenen Rezept den Erfolg der »Lustigen Witwe« auch zu erringen - mit »Ein Walzertraum« ist es ihm beinahe geglückt. Man kann überall nachlesen, daß Emmerich Kaiman mit seiner »Gräfin Mariza« sehr richtig auf Lehárs Erfolg mit einem anderen als einem Wiener Thema reagierte und eine Serie von ungarischen Operetten komponierte, die freilich alle auch einen Walzer und irgendwann die Erwähnung der guten alten Wienerstadt in einem Refrain haben mußten. Und man kann ruhig annehmen, daß Leo Fall mit seinem »Fidelen Bauer« thematisch aufs Land ging, um sich ausdrücklich von Lehár zu unterscheiden - der sofort erfolgreiche Komponist hätte mit diesem einen Schlager ausgesorgt gehabt, war jedoch ein Spekulant und Spieler und komponierte gezwungenermaßen immer wieder, um seine finanziellen Verluste wettzumachen.
Nach dem Zusammenbruch der Monarchie hätte die Zeit der Operette auch vorüber sein können. Aber so simpel war das nicht, es existierte ja in Wahrheit bis 1938 sehr viel aus der Monarchie und also auch die Operette. Und es kam zudem noch der Film, dann auch der Tonfilm in Mode, und dies war wiederum eine lebensspendende Injektion für die Operette, denn man konnte sie umschreiben, wiederverwerten, in alle Welt transportieren - und Lehár verstand sich sowohl auf die Adaptierung eigener Stoffe wie auch darauf, aus einem neuen Medium noch einmal Erfolg zu schlagen.
Auch auf diesem Sektor hatte er Konkurrenten und einige, die ihm beinahe das Wasser reichen konnten - wo auf der Operettenbühne Fall, Straus, Kálmán neben Lehár gut leben konnten, dort etablierte sich in den Filmstudios vor allem Robert Stolz, der mit »Zwei Herzen im Dreivierteltakt« auf Anhieb einen Schlager zustande brachte und dann beinahe ein halbes Jahrhundert Melodie auf Melodie aus dem Ärmel schüttelte.
Aufgewachsen in einer Tradition, die den erfolgreichen Musiker jedes Genres in der Residenzstadt - und im Sommer in Bad Ischl - und sonst nirgends ansiedelte, waren die Meister der silbernen Operette in guten wie in schlimmen Zeiten im Wiener Kaffeehaus oder auf der Promenade von Bad Ischl einander auf die Finger sehende Freunde, die entweder selbst oder über ihre Verleger um neue Stoffe, um die idealen Interpreten und um neue Absatzmöglichkeiten besorgt und sich ihren gemeinsamen Eigenschaften wohl bewußt waren: sie alle hatten eine gründliche theoretische und praktische Ausbildung genossen, sie alle zeigten professionelles Interesse für die sogenannte ernste Musik ihrer Zeit, und sie alle nahmen ihre Operetten längst nicht so ernst wie etwa Karl Kraus, der jahrzehntelang versuchte, sie tödlicher Lächerlichkeit preiszugeben. Man darf sich Franz Lehár als kultivierten, erfolgreichen musikalischen Geschäftsmann vorstellen, der wußte, daß er den Mozartsänger Tauber so dringend brauchte wie Johann Strauß dereinst Girardi. Man soll sich Franz Lehár aber auch als einen klugen Musiker vorstellen, der in der Zwischenkriegszeit einmal lebhafte Auseinandersetzungen mit dem konservativen Musiker Joseph Marx hatte, weil dieser nicht der Ansicht war, ein finanzieller Überschuß aus Operettentantiemen solle an Anton von Webern gehen - Lehár war ausdrücklich für Webern. Und erlag zwar in der Zeit der Weltwirtschaftskrise dem aus der Not an Publikum geborenen Angebot, seine »Giuditta« in der Staatsoper aufführen zu lassen, wußte schließlich aber selbst, daß er da in die falsche Umgebung kam.
Ihm und allen seinen Kollegen von Rang und Ansehen wurde 1938 zu einem Schicksalsjahr. In diesem mußten alle hochgeschätzten jüdischen Librettisten außer Landes, und selbstverständlich flüchteten auch die jüdischen Musiker. Lehár »mußte« nicht und hatte zudem das Pech, einer der Lieblingskomponisten des Führers zu sein ...
An dieser Stelle sind Vermutungen, die Verdächtigungen ähnlich sind, nicht zu unterdrücken: Lehár war kein Parteigänger der Nationalsozialisten. Lehär wurde kein Aushängeschild für das Regime, seine emigrierten einstigen Freunde sehnten sich in das Reich der Operette. Und hätte sich nach 1945 nicht die Welt und der Geschmack der Welt verändert, wenigstens die Operettenkomponisten hüben und drüben hätten genau dort fortgesetzt, wo sie 1938 unterbrochen worden waren.
Aber die Welt hatte sich verändert, und Lehár als der Klügste unter den Operettenkomponisten wußte es besonders klar. Er saß als sehr alter Mann in seiner Bad Ischler Villa und wartete auf das Ende. Daß eine Generation nach ihm Versuche unternahm, die Operette am Leben zu erhalten, nahm er nicht mehr ernst. Das Publikum wollte die alten Melodien hören und sich zurückträumen. Einmal satt von Erinnerung, wollte es etwas Neues, und dies kam in der Form der ersten amerikanischen Musical Plays - »Kiss me, Kate!« und »Show Boat« und »Oklahoma« waren die Vorläufer - auf die Bühnen.
Ob Lehár wußte, daß es eine direkte Verbindung von ihm und seinem Welterfolg zum erfolgreichsten Musical alten Stils gab? Frederik Loewe, der »My Fair Lady« schrieb und sich damit als zweiter kluger Komponist an einen Stoff von G. B. Shaw machte, war der Sohn eines im Theater an der Wien engagierten Tenors, der in zweiter Besetzung am Serienerfolg der »Lustigen Witwe« 1905/06 teilgenommen hatte.
Nach dem Zeugnis von Zeitgenossen wußte Franz Lehár immerhin sehr genau, daß das Zeitalter der Operette alter Machart spätestens 1938 zu Ende gegangen war und die Erfolge beim Publikum, die bis in die Gegenwart zu registrieren sind, keine neuen Werke mehr provozierten.
1948 starb Franz Lehár. Heinrich von Kralik schrieb in einem Nachruf höchst kenntnisreich: »Rauschzustände sind keine Dauerzustände, und nichts spricht mehr für den inneren Wert und die solide Konstitution der Lehárschen Musik, als daß dem Taumel der Berauschung keine katzenjämmerliche Enttäuschung folgte ... Lehár, der als Neuerer begonnen hatte, blieb nicht in der Ausgangsposition stecken. Er ging mit der Zeit, paßte sich ihrem Rhythmus, ihrem Klang, ihrem Erfordernis geschmeidig an; und blieb dabei der alte, blieb stets er selbst.«
Seither ist genügend Zeit vergangen, um eine knappe Wirkungsgeschichte der Wiener Operette anzudeuten. Sie ist mit ihren populärsten Werken auch in der Gegenwart in aller Welt zu hören. Im japanischen Kaufhaus ebenso wie im Musikprogramm des Senders von Peru, im Repertoire des Stadttheaters in der deutschen Provinz ebenso wie als der größte Erfolg, den sich die Zentrale für Fremdenverkehr in Wien für die Sommermonate errechnen kann.
Das Geheimnis dieser ungebrochenen Wirkung, die sich allen berechtigten Angriffen auf dumme Texte, läppische Situationen, kitschige Szenen auf immer neues Publikum beweist, ist zweifellos in der Qualität der Musik zu suchen ... Die Erfolge gehen somit, was nicht einmal im Falle Franz Lehär immer bedacht wird, auf das Konto der »guten alten Zeit«, in der im Musikland Österreich-Ungarn auch der Unterhaltungsmusiker ein seriöser Musiker sein mußte.
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