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"Mein Kopf ist voller Walzer!"#

Der Komponist Jean Sibelius, der vor 150 Jahren, am 8. Dezember 1865, geboren wurde, verbrachte als junger Mann ein Jahr in Wien.#


Von der Wiener Zeitung (Sa./So., 5./6. Dezember 2015) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Markus Vorzellner


Der junge Jean Sibelius
Der junge Jean Sibelius. Das Porträt entstand während seines Wien-Aufenthalts. Foto: Bettman/Corbis

Am 18. Oktober 1890 bestieg Jean Sibelius in Helsinki den Zug in Richtung Wien. Nach seinen Studien in Helsinki und Berlin trat er diese Reise mit hohen Erwartungen an, war ihm doch die Bedeutung dieses Ortes wohl bewusst. Was er jedoch kaum voraussehen konnte, war die Fülle an Impulsen für seine kompositorische Entwicklung, die er dort erfahren sollte.

Sibelius’ persönliche Entwicklung vollzog sich hier in einer sich von Grund auf verändernden Großstadt. So war etwa der langjährige Prozess der Donauregulierung erst 15 Jahre zuvor zu einem Abschluss gekommen, und eine pragmatisch orientierte, tiefgreifende Veränderung des Stadtbildes war gerade im Gange, gegen deren vollständige Zweckrationalisierung sich bereits damals Widerstand regte. So setzte sich der mit ästhetischen Prinzipien argumentierende Wiener Baumeister Camillo Sitte in seinem Buch "Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen" von 1889 gegen ein auf reine Funktionalität gerichtetes Städtekonzept massiv zur Wehr.

Die Auseinandersetzung spitzte sich immer mehr zu, denn zum Zeitpunkt von Sibelius’ Ankunft in Wien hatte gerade die erste große Eingemeindung einiger umliegender Dörfer stattgefunden. In der Folge entstanden auch die ersten Pläne für ein das erweiterte Stadtgebiet durchziehendes Stadtbahnnetz.

Wiener Autoritäten#

Doch nicht städtebauliche Innovationen interessierten den fünfundzwanzigjährigen finnischen Komponisten, war doch auch Helsinki in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einer durch starken Bevölkerungszuzug bedingten Stadterweiterung ausgesetzt. Sein Interesse galt dem musikalischem Brennpunkt Europas und dessen Protagonisten, die zu dieser Zeit weit über die Landesgrenzen hinaus als bedeutendste Autoritäten auf dem Gebiet der Symphonik galten: Johannes Brahms und Anton Bruckner.

Für Brahms hatte Sibelius ein Empfehlungsschreiben seines Berliner Lehrers Feruccio Busoni in der Tasche, das jedoch seine Wirkung verfehlte, da Brahms nicht gewillt war, neue Schüler anzunehmen. Auch Bruckner, der soeben eine Ehrenpension des oberösterreichischen Landtages zugesprochen bekommen hatte, war im Begriff, sich vollständig ins Privatleben zurückzuziehen. So blieb dem jungen Finnen "nur" die zweite Garde.

Ein zweites Empfehlungsschreiben wurde erbeten, dieses Mal an den Opernkomponisten Carl Goldmark, der seit 1875, dem Jahr des durchschlagenden Erfolges seiner "Königin von Saba", ein angesehener Komponist war. Goldmark nahm sich seiner an, aber auch erst, nachdem Sibelius mehrere Tage lang im Vorzimmer von dessen Wohnung anticham-briert hatte.

Auch sein zweiter Wiener Lehrer, Robert Fuchs, Professor am Wiener Conservatorium, unterrichtete ihn privat, da Sibelius nicht an dieser Institution inskribiert war. In seinen Briefen schildert Sibelius, wie Goldmark ihn an den angesehenen Professor Fuchs, dessen Ruf als Lehrer jenem als Komponisten bei weitem vorauseilte, verwies: "Da können Sie überhaupt den besten Unterricht erhalten!" Sibelius stellt in seinen Briefen beiden Lehrern ein gutes Zeugnis aus.

Es scheint, als hätte er seine Beschäftigung mit symphonischer Musik bis zu seinem Wien-Aufenthalt aufgespart. In Berlin, wo sich Sibelius im Studienjahr 1889/90 aufgehalten hatte, empfing er den Rat seines gleichaltrigen Lehrers Feruccio Busoni, sich in Wien doch die Kenntnisse an der Quelle zu holen. Busoni selbst hatte dort 14 Jahre zuvor als Pianist und Komponist debütiert und wusste um die Sogwirkung des hiesigen Musiklebens.

In Wien beeinflussten die Pflege des musikalischen Prestiges, die Inspiration, sowie das Verlangen nach mannigfaltiger Zerstreuung einander gegenseitig. So begann Sibelius im Februar 1891 an einer "Ballettszene" zu arbeiten, die als Symphoniesatz geplant war, schließlich aber nur als Einzelstück beendet und aufgeführt wurde. Einen Monat später schrieb er seinem finnischen Lehrer Martin Wegelius, dass er niemals vorher so markerschütternd geweint hätte wie bei der Niederschrift dieser Komposition. Seinem Freund Adolf Paul, der zu dieser Zeit an einem Schlüsselroman über ihn arbeitete, gestand er jedoch nur wenige Tage später, dass die gesamte Szene "tanzende Huren in einem Bordell" versinnbildlichen sollte.

Gedenktafel in der Wiener Waaggasse
Die Gedenktafel in der Wiener Waaggasse. Foto; Gerald Schmickl

Dieser Brief steht in unmittelbarer zeitlicher und thematischer Nachbarschaft zu jenem Schreiben an den Dirigenten Robert Kajanus, in welchem er durch spätpubertäre Übertreibungen zu glänzen versuchte: "Ich habe nicht nur unzählige Tripper, sondern zwei tüchtige Syphilis. Mit deren Folgen bist Du vielleicht ebenso durch Bekannte oder ‚Freunde‘ vertraut." Hinter solchen brieflichen Übertreibungen, derer sich Sibelius im Lauf seines persönlichen und künstlerischen Emanzipationsprozesses in immer stärkerem Maß bedient, kristallisiert sich Wien als überaus prägendes Milieu heraus.

Oboentöne#

Der Umstand, dass er Anton Bruckner nicht als Lehrer für sich gewinnen konnte, wird etwas abgemildert durch die Chance, der Uraufführung von dessen überarbeiteter Dritter Symphonie am 21. Dezember 1890 beizuwohnen. An seine Verlobte Aino Järnefelt schreibt er: "Bruckner ist für mich der größte gegenwärtig lebende Komponist. (. . .) Man schrie hurrah und grölte. Es war seine d-Moll-Symphonie. Du kannst Dir nicht vorstellen, was das für einen Eindruck auf mich machte. Das Stück hat natürlich Fehler und Mängel, aber es hat allen anderen etwas voraus, und das ist Jugend, auch wenn der Komponist ein alter Mann ist."

Dieses Erlebnis der überarbeiteten Dritten stellt den ersten Höhepunkt in einer Phase dar, in der Sibelius besonderes Interesse für Instrumentation und Orchestrierung hegt. Schon zwei Wochen nach seiner Ankunft erwirbt er die seinerzeit gefragteste und profundeste Instrumentationslehre, den "Traité général d’Instrumentation" des französischen Komponisten und Gelehrten François-Auguste Gevaert, welcher kurz davor von dem einflussreichen Wiener Musikwissenschafter Hugo Riemann ins Deutsche übersetzt worden war.

Für die Behandlung der Oboe interessiert er sich dabei in besonderem Maß, weshalb er zusätzlich zu den Informationen, die er Gevaerts Buch entnimmt, den Wiener Oboisten Heber konsultiert. Dieser unterrichtet ihn, dem Inhalt der nach Finnland geschriebenen Briefe zufolge, in den Spieltechniken dieses Instruments. Da in diesem Jahr der separat entwickelte Typus der französischen Oboe am Pariser Conservatoire als allgemein verbindlicher Standard festgelegt worden war, ist die Annahme legitim, Sibelius habe sich bei Heber spe-ziell über die Spielart der "Wiener Oboe" unterrichtet. In jedem Fall setzt er deren Klang gekonnt in jener Ballettszene ein, die - wie erwähnt - von tanzenden Huren inspiriert worden sein soll.

Diese Ballettszene wäre, so sagen manche Musikologen, vom Duktus der Wiener Musik stark beeinflusst, obgleich ihr "Dreivierteltakt" sich eher dem Charakter der Seguidilla zuneigt. In jedem Fall berichtet der Komponist seiner Mutter während der Weihnachtsfeiertage 1890, dass "ganz Wien von Walzern und von Lachen erschallt".

Es ist nicht überliefert, welche Erfahrungen Sibelius tatsächlich mit Wiener Musik machen konnte. Rein zeitlich betrachtet, könnte er das Original Schrammelquartett - mit Anton Strohmayer und Georg Dänzer am "picksiaß’n Hölzl" - noch gehört haben, das im Etablissement Stahlehner in Hernals regelmäßig auftrat. (Die legendäre Fiakermilli allerdings hatte er bereits versäumt, sie starb 1889.)

Gegenüber solcher Spekulation lässt sich jedoch die bewusste Hinwendung zur musikalischen Volkskultur seines eigenen Landes belegen, denn Sibelius wendet sich während seiner Wiener Zeit finnischen Volksliedern zu, die er unter anderem für den rumänischen Cellisten Dimitrie D. Dinciu aufschreibt: "Er war sehr angetan von ihnen und meinte, sie seien so ursprünglich und melodiös", berichtet er seiner späteren Frau Aino nach Helsinki. So lässt sich indirekt eine Bewusstwerdung für das Aufspüren melodischer Idiome des eigenen Kulturkreises erkennen, die im Idealfall durch das Erleben von wienerischer Melodik ihre Initialzündung erfahren hatte.

Den bedeutendsten Niederschlag findet diese Beschäftigung in Sibelius’ erstem großen Orchesterwerk, "Kullervo", dessen Skizzierung noch in Wien begonnen wurde. Bei dieser programmatischen Komposition handelt es sich um die Vertonung einer Episode aus dem finnischen Nationalepos "Kalevala", das im 19. Jahrhundert von Elias Lönnrot aus finnischen Sagen und Erzählungen zusammengestellt und in Form gebracht worden war. Die Episode, welche die grausame Geschichte von Kullervo und dessen Bruder Untamo schildert, findet sich in der zweiten Ausgabe der "Kalevala" von 1849. Hier kommt zum ersten Mal im kompositorischen uvre von Sibelius eine ausgewogene Instrumentation zur Geltung, und vielleicht kann die kurze Holzbläser-Episode aus dem zweiten Teil der Symphonischen Dichtung, "Kullervon nuoruus" ("Kullervos Jugend"), auf die Wiener Auseinandersetzung mit Heber und seiner Oboe zurückgeführt werden.

"Valse triste"#

Sibelius verlässt die Stadt im Juni 1891. Die kollektive Erinnerung an seinen Wien-Besuch verblasste derart, dass es möglich wurde, eine an ihn erinnernde Gedenktafel ab 1951 am falschen Haus anzubringen. Erst 2004 fand die Versetzung an die richtige Stelle am Original-Haus in der Waaggasse 1 statt.

Auch wenn Sibelius voller Enthusiasmus nach Hause schreibt: "Diese Luft macht mich verrückt! Mein Kopf ist voller Walzer!" - so konnte er während seines Wiener Studienaufenthaltes kaum einen solchen zu Papier bringen. Seinen bedeutendsten Walzer, "Valse triste" op. 44, der in seinem Dur-Teil durchaus wienerisches Idiom zeigt, wird er als Bühnenmusik für ein Stück seines Schwagers Arvid Järnefelt, "Kuolema" ("Der Tod"), schreiben.

Ungeachtet der Verbindung des implizit Wienerischen mit dem Tod: Als bemerkenswert kann der Umstand erachtet werden, dass die Komposition dieses Walzers nicht lange nach seinem letzten Wiener Aufenthalt vom März 1901 in Angriff genommen wurde.

Markus Vorzellner lebt als Pianist, Musikpublizist und Pädagoge in Wien.

Wiener Zeitung, Sa./So., 5./6. Dezember 2015