Max Perutz und seine Welt#
Eine Auswahl aus den Briefen des Chemie-Nobelpreisträgers und renommierten Essayisten ist nun von seiner Tochter Vivien in einem Buch herausgegeben worden.#
Von der Wiener Zeitung frundlicherweise zur Verfügung gestellt. (Samstag, 5. Septenber 2009)
Von
Peter Markl
Der lange erwartete Band mit Briefen von Max Perutz – der nicht nur einer der großen Wissenschafter des 20. Jahrhunderts war, sondern auch ein großer Briefschreiber gewesen ist – beginnt mit einer Überraschung. Noch vor dem eigentlichen Titelblatt findet sich die nostalgisch anmutende Schwarzweißfotografie einer tief verschneiten Berglandschaft, die hinter in den Schnee gesteckten Skiern mit noch ganz primitiven Bindungen sichtbar wird.
Max Perutz hat dieses Foto geliebt: es hing immer an der Wand seines Büros im "Institute for Molecular Biology" des "Medical Research Council" in Cambridge, und als er wenige Jahre vor seinem Tod ein Album mit ihm wichtigen Fotografien zusammenstellte, nahm er es darin auf: "Meine Ski. Niedere Tauern, Winter 1930". Er blieb diesem Traum treu. Als er 87 Jahre alt geworden war, wurde er in eine BBC-Sendung eingeladen, in der berühmte Persönlichkeiten nach Schallplatten gefragt wurden, die sie auf die legendäre einsame Insel mitnehmen würden. Als ihn der Moderator am Ende der Sendung nach einem Luxusartikel fragte, den er in der Insel-Einsamkeit noch neben sich wissen wollte, antwortete Perutz: " Ein Paar Ski. Man weiß nie – es könnte ja schneien".
Max Perutz’s wissenschaftliche Leistung – er ist 1962 mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet worden – ist in ihrer Art einmalig. Die räumliche Struktur und Funktion des Hämoglobins haben ihn (fast) seine ganze wissenschaftliche Arbeit lang beschäftigt – von der ersten Veröffentlichung einer noch nicht deutbaren Röntgenaufnahme im Jahr 1937 bis hin zu den hochauflösenden Aufnahmen, die es 1970 nach 33 Jahren Forschung mit Höhen und Tiefen möglich gemacht haben, die räumliche Lage jedes einzelnen der etwa 10.000 Atome im Hämoglobinmolekül auf zwei Ångström (= zwei zehnmillionstel Millimeter) genau festzulegen.
Was vielen seiner Kollegen wie eine geradezu manische Fixierung auf ein einziges Molekül erschien, war das genaue Gegenteil, nämlich nur eine Zwischenstation in der Verfolgung seines großen Ziels: zu demonstrieren, dass man aus der räumlichen Struktur eines Moleküls seine Funktion erschließen kann.
Als das Unternehmen begann, hielten es viele für völlig aussichtslos. Heute ist klar, dass es Perutz und seinen Kollegen nicht nur gelang, das unmöglich Scheinende durch die Entwicklung neuer Techniken zur Analyse der räumlichen Struktur von Proteinen möglich zu machen. Sie haben am Beispiel des Hämoglobins exemplarisch gezeigt, wie mit Hilfe der erhaltenen Strukturdaten die Funktion von Proteinen bis in die atomaren Details aufgeklärt werden kann und wie durch Mutationen verursachte Veränderungen im Bau dieser Moleküle zu Funktionsdefekten führen können, welche Krankheiten – wie die Thalassämie oder Sichelzellanämie – verursachen.
Perutz wird jedoch nicht nur für das bewundert, was er selbst zur Wissenschaft beigetragen hat, sondern auch wegen des Laboratoriums, das er zu gründen half: seit 1950 sind aus dem "Medical Research Council Laboratory of Molecular Biology" nicht weniger als 13 Nobelpreise und einige Dutzend Mitglieder der Royal Society hervorgegangen, deren wissenschaftliche Leistung oft derjenigen von Nobelpreisträgern nicht nachsteht.
Ein Intellektueller#
Perutz war aber mehr als ein großer Wissenschafter, der andere zu großer Wissenschaft inspiriert hat. Er war unwiderstehlich und unübertroffen in der Kunst, andere durch sachliche Argumente sanft davon zu überzeugen, dass es notwendig ist, auch die institutionellen Voraussetzungen für große Wissenschaft zu schaffen. Dieses Laboratorium, das auch heute noch auf seinem Gebiet von keinem anderen Labor der Welt übertroffen wird, kann auf eine atemberaubende Erfolgsgeschichte zurückblicken.
Max Perutz, ein schmächtiger Mann mit hoher Stirn und überragendem Intellekt, blieb auch bescheiden, als er bereits eine Zelebrität von Weltruhm geworden war. Er war an anderen Menschen interessiert – und das unabhängig von deren Status. Vor allem für junge Menschen suchte und fand er immer Zeit.
Er war stolz auf seine literarischen Fähigkeiten und ist – vor allem wegen seiner in der "New York Review of Books" veröffentlichten Essays – weit über den Kreis der Naturwissenschaft hinaus bekannt geworden. Er wurde wegen seines toleranten und doch leidenschaftlichen Eintretens für unprätentiöse intellektuelle Redlichkeit und soziale Gerechtigkeit wie nur wenige andere Wissenschafter bewundert und verehrt.
Die englische Wissenschaftsautorin Georgina Ferry hat vor zwei Jahren eine exzellente Biographie von Max Perutz vorgelegt. Aber die nun veröffentlichte Auswahl von Briefen, welche seine Tochter, die Kunsthistorikerin Vivien Perutz, getroffen und mit ausgezeichneten Einleitungen in den jeweiligen Kontext gestellt hat, macht den Zauber von Perutz’s Persönlichkeit erlebbar. In diesen Briefen werden seine Jugend in Wien, seine ersten Jahre in Cambridge, seine abenteuerlichen Kriegserlebnisse und die Jahre des Aufstiegs zum Weltruhm lebendig. Es sind vor allem aber auch die Briefe aus den späteren Jahrzehnten, die den Band so lebendig, faszinierend und reich machen, weil sie eine Welt widerspiegeln, wie sie nur Max Perutz erleben konnte: Glanz und Elend der wissenschaftlichen Arbeit ebenso wie Begegnungen mit großen Wissenschaftern und Politikern und die unmittelbaren Eindrücke von weltweiten Reisen.
Perutz hat schon 1949 – nach 12 Jahren Abwesenheit – Österreich zum ersten Mal wieder besucht. Seine Briefe aus diesen Tagen sind besonders bewegend dort, wo Perutz seine Wanderungen durch das 1949 noch zerstörte und besetzte Wien beschreibt oder die Tage, in denen er die geliebte Gegend um den Semmering und die Villa Perutz in Reichenau schildert, wo er in seiner Kindheit die Ferien verbracht hatte. Er hat dieses Haus erst viel später – Ende August 1993 – wieder betreten und damals an seine Schwester geschrieben: "Es ist gut, dass ich jetzt Freude daran habe, die vielgeliebten Stätten meiner Kindheit zu besuchen, ohne die Spur eines Bedauern darüber, dass ich jetzt nicht mehr hier lebe."
Seit seiner Kindheit hatte Perutz mit einer schwächlichen Gesundheit zu kämpfen. Sie hat es ihm immer wieder auch über längere Perioden unmöglich gemacht, normal zu arbeiten. Freunde staunten darüber, welches Ausmaß an Anstrengungen er sich trotzdem zugemutet hat. Als im November 2000 in der "New York Review of Books" ein provokanter Artikel die These diskutierte, dass sich die Medizin heute in einer Periode des Verfalls befinde, schrieb Max Perutz einen Leserbrief, in dem es heißt: "Ist es denn wirklich wahr, dass . . . die Medizin einen Verfall durchgemacht hat? Meiner Erfahrung nach nicht, denn ohne sie wäre ich schon mehrmals tot gewesen, aber dank Antibiotika, Röntgenstrahlung, Operation am offenen Herzen, einem Herzschrittmacher und Strahlentherapie bin ich mit Sechsundachtzig immer noch am Leben und fit für einen ganzen Arbeitstag, sechs Tage pro Woche. Die High-Tech Medizin funktioniert doch!"
Im Jänner 2001 wurde dann bei Perutz ein seltener, noch unheilbarer Krebs diagnostiziert. Als sich bereits abzeichnete, dass ihm nur mehr wenig Zeit bleiben würde, weil die Virulenz seiner unheilbaren Krebserkrankung nicht länger bezweifelt werden konnte, diktierte er in schlaflosen Nächten seiner ehemaligen Sekretärin eine Reihe von bewegenden Briefen, mit denen das Buch endet. Er richtete sie – unter anderen – an die britische Königin Elisabeth, an Margeret Thatcher, an den Kanzler der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften und den Präsidenten der Royal Society, die er alle auch persönlich immer wieder getroffen hatte.
Perutz, der als gläubiger Katholik erzogen worden war, und in Erinnerung an die Schrecken des Ersten Weltkrieges in der Kirche zu Gott darum gebetet hatte, die von Mussolini angedrohte Invasion Abessiniens und damit den neuerlichen Ausbruch eines Krieges zu verhindern, verlor seinen Glauben an einen allwissenden, gütigen und gerechten Gott, als italienische Flugzeuge wehrlose, unschuldige abessinische Dörfer mit Giftgas bombardierten. Als wenig später berichtet wurde, Bischöfe hätten die nach Abessinien aufbrechenden italienischen Truppen gesegnet, "tötete" das seinen Respekt vor der Kirche.
Perutz und der Papst#
Aber er schrieb auch an den Kanzler der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften, in die er 1981 durch ein Telegramm von Papst Johannes Paul II. berufen worden war. Perutz erhielt das Telegramm am selben Tag, als die Nachricht von dem Attentat auf den von ihm persönlich geschätzten Papst eintraf. Perutz hatte die Hoffnung gehabt, dass sich die Haltung der katholischen Kirche zur Geburtenkontrolle ändern würde, wenn nur die Fakten über die nachteiligen Folgen eines unbegrenzten Bevölkerungswachstums klargelegt wären, wozu er im Rahmen der Päpstlichen Akademie durch die Organisation eines Workshops beizutragen versuchte.
Perutz hat sogar einmal in einer etwas heiklen Mission als eine Art päpstlicher Gesandter fungiert: Er wurde dazu ausgewählt, der Königin von England eine Botschaft des Papstes zu überbringen, in der eine neue Initiative zur Bekämpfung der Weiterverbreitung von Atombomben angeregt wurde. Das englische Außenministerium hat das allerdings als eine politische Aktion eingestuft und die Delegation an Margret Thatcher verwiesen, die in einem sehr förmlichen Empfang nach dem Lesen der Botschaft "eisig" anmerkte: "Ich werde der Königin raten, was sie antworten soll".
Es war einer der Momente, in denen sich Perutz der Komik der Situation bewusst war: "Ich, ein Ex-Österreicher mit jüdischen Eltern, fühlte mich etwas wie ein Charlie Chaplin, der dabei ist, zwischen dem Papst und der Königin als Bote zu fungieren." Wieder einmal stellte sich ihm die Frage nach der persönlichen, emotionalen Zugehörigkeit und der von Anderen zugewiesenen Identität.
In dem letzten Brief – geschrieben zwei Wochen vor seinem Tod – wendet er sich an Lord May, der damals Präsident der Royal Society war: "Man hat mich bei manchen Gelegenheiten gefragt, wem ich mich nun wirklich zugehörig fühle, Österreich, oder Britannien, oder den Juden. Ich gab immer eine ausweichende Antwort, denn was ich wirklich sagen wollte, war, dass ich zur Royal Society gehöre und dass das alles ist, was ich brauche."
Literatur:
Vivien Perutz (Hrsg.): What a Time I am Having. Selected Letters of Max Perutz. Cold Spring Harbor Laboratory 2009, 506 Seiten, 30,99 Euro.
Georgina Ferry: Max Perutz and the Secret of Life. Taschenbuch, Pimlico, London, 2007, 352 Seiten, 15,99 Euro.
Max Perutz: Ich hätte Sie schon früher ärgern sollen. Aufsätze über Wissenschaft, Wissenschaftler und die Menschheit. Brüder Hollinek, Purkersdorf, 1999, 304 Seiten, 32,70 Euro.
Peter Markl unterrichtete an der Universität Wien Analytische Chemie und Methodik der Naturwissenschaften. Er ist Mitglied des Konrad Lorenz Instituts für Evolutions- und Kognitionsforschung und Mitglied des Kuratoriums des Europäischen Forums Alpbach.