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Wir sind dem Digitalen nicht gewachsen #

Atomenergie und Digitalisierung ähneln einander durch ihre vergiftete Gabe: Maßlosigkeit.#


Von der Wiener Zeitung (10. Februar 2021) freundlicherweise zur Verfügung gestellt

Von

Marco Morosini


Marco Morosini war Mitbegründer der italienischen 5-Sterne-Bewegung, die als erste digitale Partei der Welt gilt, mit der er sich allerdings heute nicht mehr identifizieren kann. © Luca Faccio

Wir haben ihn gesehen, den Vorschlaghammer, mit dem ein "domestic terrorist" die Glasfenster des Kapitols zertrümmerte. Das ist ein passendes Symbol für einen vierjährigen Versuch, die US-Demokratie zu zerschlagen. Ein berühmter Vorschlaghammer war schon das Symbol des Gegenteils: das Symbol der Zerschlagung des Mega-Bildschirms von Big Brother im legendären "1984"-Werbespot, mit dem Apple den neuen Macintosh-Computer einführte, der quasi eine digitale Befreiung ermöglichen sollte. Der "1984"-Spot war eigentlich das Manifest des politischen Digitalismus: Eine Ära der Freiheit, der kollektiven Intelligenz, der direkten Demokratie und der Volksermächtigung wurde verkündigt. Stattdessen kam Donald Trump - und öffnete uns die Augen. Denn ohne sein digitales Flächenbombardement wäre er nicht der mächtigste Mann der Welt geworden. Und womöglich wäre er ohne die 400.000 Todesopfer seines tragischen Pandemiemanagements noch heute im Amt.

Nicht den Machtlosen, sondern den Mächtigen gibt heute das Digitale noch mehr Macht. Daten, nicht Soldaten, sind nun die beste Waffe zur Machteroberung. Die Fassungslosigkeit, die jeder Anlauf zu einer Regulierung des Internets auslöst, zeigt: Das Digitale ist nunmehr ein Bolide ohne Bremse und ohne Rückwärtsgang. Und es passiert uns schon zum zweiten Mal mit einer neuen Technik, denn Atomenergie und Digitalisierung ähneln einander durch ihre vergiftete Gabe: die Maßlosigkeit.

Die beiden Techniken eröffnen plötzlich dem in zwei Millionen Jahren von Knappheit geschulten Homo sapiens eine scheinbar unendliche Verfügbarkeit von Energie und Information. Dadurch schaffen sie eine neue, unumkehrbare "conditio humana". Sättigung war jahrtausendelang unser Traum - Maßlosigkeit ist nun unser Albtraum geworden. Beide Techniken - Atomenergie und Digitalisierung - versprachen uns den Himmel auf Erden. Das Atomzeitalter verhieß uns in den 1960er Jahren billigste Elektrizität, bewässerte und fruchtbare Wüsten, die Ausrottung von Hunger und Armut. Bei der Nukleartechnik haben wir inzwischen die Augen geöffnet. Bei der Digitaltechnik sind wir noch in einer euphorischen Betäubungsphase. Jeder Anstoß zu differenzierterem Nachdenken über das Digitale wird noch weggewischt mit Verweis auf dessen unbestreitbare Vorteile.

Allerdings birgt unendlich verfügbare Energie auch ein Potenzial für Missbrauch und materielle Selbstschädigung. Ebenso impliziert unendlich verfügbare Information auch ein Potenzial für Missbrauch und mentale Selbstschädigung. Smartphones sind schon für Kinder wie Aladdins Wunderlampe: Man streicht übers Smartphone, und dessen schier allmächtiger Geist befriedigt jedes Verlangen, provoziert aber auch verhängnisvolle Begegnungen: Pornografie, Gewalt, Glücksspiel, Hass im Netz, Fake News. Im Internet sehen Kinder sogar andere Kinder, die durch Spielzeugwerbung auf YouTube reich werden. All das steht scheinbar gratis zur Verfügung, jederzeit und überall. Wir - Erwachsene wie Kinder - sind der Technik nicht gewachsen, weder der atomaren noch der digitalen.

Wiener Zeitung, 10. Februar 2021


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