Der Großglockner#
von
Heidi Brunnbauer
Einer Saga sollte man grundsätzlich mit Vorsicht begegnen, insbesondere wenn sie nette Episoden beinhaltet. Se non è vero è ben trovato, sagen die Italiener entschuldigend, wenn es mit dem Wahrheitsgehalt nicht weit her ist. Diese Erfahrung machte ich bereits mit Geschichten, die mir Cottage-Bewohner im Zuge meiner Dokumentationsarbeit erzählten. Ich habe gelernt, zu hinterfragen, zu überprüfen und dann erst zu akzeptieren. Dass es mir nun bei der eigenen mündlich überlieferten Geschichte über den Großglockner auch so gehen würde, überraschte mich. Ich hielt die Gewährsleute aus meiner väterlichen Familie für seriös und glaubwürdig. Das waren sie grundsätzlich wohl auch, doch erkenne ich wieder einmal, wie Erinnerung und Realität nicht immer deckungsgleich sind.
Verkauf um einen Schilling#
Da hieß es, der höchste Berg Österreichs wäre um einen „Erinnerungsschilling“ von der Familie an den Alpenverein verkauft worden. Das stimmt schon deshalb nicht, weil es 1918, zum Zeitpunkt der Transaktion, noch die Kronenwährung gab, die erst 1925 – nach den Jahren der Hyperinflation – vom Schilling abgelöst wurde. Die Mär vom „Erinnerungsschilling“ ist darauf zurückzuführen, dass der 1918 gezahlte Kaufpreis von 10.000 Kronen im Jahr 1925 nur 1 Schilling wert war. (Die Oesterreichische Nationalbank hat noch im Mai 1925 eine Banknote zu 10.000 Kronen mit dem Aufdruck „ein Schilling“ in Umlauf gesetzt, während bereits die neuen Schilling-Scheine ausgegeben wurden.) Man erzählte auch, mein berguntauglicher Urgroßvater wäre von den Mölltaler Bauern bedrängt worden, doch auf „seinen Berg“ zu steigen, was er standhaft verweigert hätte, weil er unter Höhenangst litt. Auch das ist unrichtig, weil es sich nicht um Großmutters Vater sondern um ihren Bruder handelte und außerdem dieser sehr wohl den Großglockner bestieg. Allerdings nur ein Mal und da mit sanfter Gewalt. Es waren die Bergführer von Winklern, die ihm immer wieder vorhielten, dass er als Eigentümer des Glockners noch nie dort oben gewesen war; er müsse das unbedingt nachholen. Schließlich ließ er sich überreden und erreichte mit ihrer Hilfe den berühmten Gipfel. (Erstbesteigung 1800 durch den Fürstbischof von Gurk, Graf Salm-Reifferscheid, mit einer Gruppe von Naturwissenschaftlern).
Ich habe großes Verständnis für das ablehnende Verhalten meines Großonkels, weil ich weiß was Höhenangst ist. So gerne ich auf die Berge steige, so schlimm ist für mich ein „ausgesetzter“ Weg oder Steig auf einem Grat, wo es neben mir in die Tiefe geht. Da bekomme ich weiche Knie und Todesangst – ein schreckliches Gefühl! Wie muss es dem armen Notar aus Winklern ergangen sein? Es mögen wohl Neid auf den „König des Mölltals“ und Bosheit der Antrieb für die Bergführer gewesen sein, die gewagte Tour mit ihm zu unternehmen. Kurioserweise hat sein sportlicher
Großneffe, akademischer Maler und Bildhauer Hellmuth Marx (1915-2002) aus Oberdrauburg (mit Brunnenfigur aus Marmor auf dem Marktplatz, von uns „Miss Oberdrauburg“ genannt), aus dem Zweiten Weltkrieg heimgekehrt, sich als inoffizieller Bergführer in Heiligenblut finanziell über Wasser gehalten und den Großglockner 17mal bestiegen. Seinen künstlerischen Beruf konnte man in dieser schweren Zeit vorübergehend wahrlich als brotlos bezeichnen.
Nun zu den Fakten#
Das Gebiet des Großglockners gehörte auf der Kärntner Seite von alters her zur Herrschaft Großkirchheim. Sie umfasste neben Immobilien (Schloss Großkirchheim usw.) Wiesen, Äcker und Wälder von Winklern bis Heiligenblut, aber auch Almen, Fels sowie Gletscher mit der Pasterze und dem Großglockner. Diesen ausgedehnten Großgrundbesitz ersteigerte mein Urgroßvater, Johann A. Aicher von Aichenegg (1807- 1865), k. k. Steuereinnehmer und Gutsbesitzer in Winklern, vier Monate vor seinem Tod zum Okkasionspreis. Als nämlich der zeitweilig recht ertragreiche Bergbau (im Wesentlichen Tauerngold) sich erschöpfte, unrentabel geworden und um 1870 schließlich eingestellt worden war, erlebten die Waldungen, die zuvor das Holz für die Schmelzöfen geliefert hatten, einen starken Preisverfall. Sein Sohn, Dr. iur. Josef Aicher v. Aichenegg (1848-1899) Notar in Winklern, erbte die Besitzungen im Mölltal inklusive Großglockner und Pasterze. Er vermachte diese seinen vier Töchtern. Die Älteste war mit dem Holzindustriellen Baumeister Albert Wirth aus Villach verheiratet. Er konnte seine Frau und die Schwägerinnen dazu überreden, ihre Besitzanteile am Großglocknergebiet von rund 40 km² um 10.000 Kronen an den Alpenverein zu übereignen. So wurde am 20. Juni 1918 ein Kaufvertrag zwischen den Aichenegg-Töchtern und dem damaligen „Deutschen und Oesterreichischen Alpenverein“ (seit 1951 „Oesterreichischer Alpenverein“) erstellt, der am 2. Oktober 1918 vom Landesgericht genehmigt und dem Grundbuch Winklern einverleibt wurde. Gleichzeitig verpflichtete sich Albert Wirth dem Alpenverein gegenüber, den gesamten Kaufpreis plus Nebenspesen unter der Auflage zu übernehmen, „dass das gewidmete Großglocknergebiet als Naturschutzpark der Zukunft erhalten bleibe.“
Die Naturschutzidee#
Albert Wirth (1874-1957) absolvierte in Wien die Höhere Baugewerbeschule und studierte anschließend zwei Semester an der Hochschule für Bodenkultur. Er war ein begeisterter Jäger und Naturliebhaber und wollte eigentlich Naturforscher werden. Wegen des vorgesehenen Einstiegs in das bedeutende väterliche Holzunternehmen F. X. Wirth in Villach musste er seine Neigung hintanstellen, legte die Baumeisterprüfung ab und sammelte Erfahrung im Baugewerbe. Um die Betonbauweise bei Hochhäusern zu studieren, reiste er 1899 in die USA. Dort lernte er die Naturschutzidee im Yosemite- und Yellowstone-Nationalpark kennen, durch welche die belebte und unbelebte Natur den technischen Einwirkungen auf Dauer entzogen wurde. Davon war A. Wirth fasziniert und kam von seiner Ausbildungsreise als überzeugter Naturschützer mit der Absicht zurück, sich für die Erhaltung der Naturlandschaft in der Heimat einzusetzen. Schon zu Beginn des Ersten Weltkrieges gab es wilde Spekulationen über die kommerzielle Verwertung des Glocknergebietes, u. a. mit dem Plan eines fashionablen Hotels samt Sportplätzen in der Gamsgrube sowie einer Drahtseilbahn von der Pasterze auf die Spitze des Großglockners. All dem machte A. Wirth durch seine großzügige Schenkung an den Alpenverein ein Ende. In Anerkennung und Dankbarkeit für diese bedeutende Eigentumsübertragung, die schließlich der Grundstein für die Schaffung des „Nationalparks Hohe Tauern“ war, errichtete die Sektion Villach des Alpenvereins für ihr Mitglied Albert Wirth 1970 (zum 100. Bestandsjahr der Sektion) eine Gedenktafel. Sie befindet sich an dem Promenadenweg, der vom Franz-Josephs-Haus über die Hoffmannshütte zur Oberwalderhütte führt, dort wo der Alpenvereinsbesitz beginnt. Der „Nationalpark Hohe Tauern“ (eingerichtet 1981) geht auf die Heiligenbluter Vereinbarung von 1971 zurück und ist der älteste Nationalpark Österreichs, das größte Schutzgebiet Mitteleuropas und seit 2003 UNESCO-Welterbe. Als junges Mädchen habe ich Onkel Albert anlässlich eines Besuches mit meiner Mutter im Wirthschen Haus an der Villacher Draulände kennengelernt ohne zu ahnen, um welche außergewöhnliche Persönlichkeit es sich handelte. Er war damals, als ich ihn sah, schon seit vielen Jahren völlig blind, trug eine schwarze Brille und wurde von einem Betreuer ins Wohnzimmer per Rollstuhl geschoben. Es folgten Bewirtung und die üblichen Verwandtengespräche, mehr nicht
Erste Bekanntschaft mit dem „Berg“#
Meine erste Bekanntschaft mit dem Großglockner verdanke ich einer Schulexkursion ins Kärntner Landesmuseum in Klagenfurt. Dort befindet sich das monumentale Relief mit Pasterze und Glocknerspitze (7 m x 3,5 m), geschaffen in den Jahren 1890- 1893 vom Lehrer und Geoplasten P. G. Oberlercher (1859-1915) auf Grundlage eigener ausgedehnter Vermessungsarbeiten; auch dies eine beachtliche Leistung. In natura erlebte ich den Großglockner erst Jahrzehnte später; ich war beeindruckt von seiner Schönheit und Majestät, verspürte aber nie den Wunsch ihn zu besteigen.