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Essen das nicht satt macht #

In ihrem „Kochbuch für die Seele“ beschreibt die Psychotherapeutin Romana Wiesinger, wie Essen, Psyche und Beziehungen zusammenhängen. #


Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus: DIE FURCHE, 1. Februar 2018

Von

Verena Resch


Wir essen alleine. Wir essen ein „schnelles Weckerl“ vor dem Computerbildschirm oder in der Straßenbahn. Wir essen im Liegen und im Stehen. Wenn sich alle bei Tisch zu Suppe und Hauptspeise versammeln, hat das oft bereits Festcharakter. Es ist freilich das Miteinander, welches das Leben und damit das Essen auch wirklich schmackhaft macht, weiß Romana Wiesinger. Und das Kochen einer Speise habe auch etwas mit Wertschätzung zu tun. Umso mehr ruft die Psychotherapeutin und Expertin für Essstörungen in ihrem neuen „Kochbuch für die Seele“ zum gemeinsamen Genießen und zum bewussten Einkauf auf – und nimmt die Lebensmittelindustrie, die nach wie vor den Fokus auf schnelles Essen legt, mit in die Verantwortung.

Nicht immer ist es einfach, all das zu verdauen, was das Leben zu bieten hat. Die Umgangssprache kennt folglich viele Ausdrücke, die sich auf das Essen beziehen – aber das seelische Wohlbefinden meinen. Wir sprechen vom üblen „Bissen, der uns im Hals stecken bleibt“, „von der Suppe, die wir auslöffeln müssen“, vom „heißen Brei, um den wir herumreden“ – ebenso wie von den Sorgen, die wir fleißig „hinunterschlucken“. Auch die Verdauungsorgane spielen ihre sprachliche Rolle: Beispielsweise, wenn uns eine Laus über die Leber läuft oder etwas schwer im Magen liegt. Doch auch die Liebe geht bekanntlich durch den Magen.

Was fehlt mir wirklich? #

Essen hat also wesentlich mit inneren Bedürfnissen zu tun. „Mit Essen kann ich mich wunderbar ablenken, mir Trost spenden, mich vom Stress ein Stückchen herunterholen, Langeweile füllen oder auch Wut hinunterschlucken“, erzählt Wiesinger von Fällen aus ihrer täglichen Arbeit. Oft sagen ihr Klienten: „Ich hätte eigentlich eh schon genug, aber ich esse weiter!“ Hier stelle sich die Frage: Was fehlt diesen Menschen wirklich?

Essstörungen wie Magersucht, Bulimie („Ess-Brechsucht“) sowie Übergewicht werden jedenfalls häufiger, so Wiesinger. Während die einen versuchen, alles hinunterzuschlucken, verweigern andere die Nahrungsaufnahme aus Prinzip. Dabei geht es nicht vorrangig um das Gewicht. Manche befreien sich durch Erbrechen von Wut, erklärt die Therapeutin. Wer ein sehr geregeltes, diszipliniertes Leben führt, dem bringt das Erbrechen eine Auszeit, ein Ganz-bei-sich-sein, je nachdem wonach Sehnsucht verspürt wird. Dabei wird verdrängt, dass mit dem Essen ein Problem verbunden ist, das an einer ganz anderen Wurzel gepackt werden müsste.

Doch was tun, wenn man erkennt, dass einem das Essen – und Leben – nicht mehr so richtig schmecken will? Wo soll man ansetzen, wenn man an sich selbst oder im näheren Umfeld Veränderungen im Essverhalten bemerkt? Wiesinger rät Betroffenen, bewusst in die eigene Welt der Gefühle zu blicken. Das beginne damit, ehrlich mit sich selbst zu sein und darauf zu schauen, was sich in letzter Zeit abseits vom Mittagstisch verändert habe, sagt Wiesinger. „Alle Bereiche, die in meinem Leben zusammenspielen, kann ich ein Stück weit dahin hinterfragen, ob sich etwas eingeschlichen hat, das mir nicht mehr schmeckt.“ Dazu zählt die Familie ebenso wie die Herkunftsfamilie, der Freundeskreis, das Arbeitsumfeld, aber auch die Freizeitgestaltung. Es sei ratsam, hier „eigene Rezepte“ zu finden.

Seelische „Gustostückerln“ #

Viele davon hält Wiesingers „Kochbuch für die Seele“ bereit, das keine tatsächlichen Kochrezepte, dafür aber umso mehr „Schmankerl“ im Sinne von Lebensübungen bereithält. Wobei sich das Inhaltsverzeichnis durchaus wie ein Speiseplan liest: Vom Aperitif ist etwa die Rede und von zahlreichen Essens-Zutaten wie Heimlichkeit oder Gewohnheit, aber auch von „Gustostückerln“ und „Gaumenkitzlern“ zur genussvollen, eigenen Seelendurchforstung. Wenn nach einer Frist der Eigenbeobachtung und versuchter Selbstreflexion von ungefähr zwei bis drei Monaten keine Besserung eintritt, empfiehlt die Psychotherapeutin freilich den Schritt zur professionellen Hilfe.

Insgesamt haben die Probleme punkto Essen viele Gesichter, erklärt Wiesinger, die im Sinne eines besseren Miteinanders für mehr Verständnis für solche Menschen plädiert. Sie analysiert das Essverhalten der ewig Unzufriedenen, der Hungrigen, der Kontrollierten, der Angepassten oder der Zufriedenen. Dazu kommen praktische Tipps – etwa die „Nudelvariation“ zum Umgang mit dem eigenen Spiegelbild: Benötigt werden dazu zwei gleich lange Schnüre. Mit der einen legt man den geschätzten Umfang – etwa des Oberschenkels – vor sich auf dem Boden auf; mit der zweiten überprüft man das tatsächliche Maß. Meist komme es dabei zu Überraschungen – und zwar zu positiven, ist Wiesinger überzeugt. „Einen Schritt näher zu sich selbst zu kommen, bringt jedem etwas“, sagt sie. Besonders aber jenen vielen Menschen, die mit ihrem Gewicht nicht glücklich sind. Ein solches Umrühren in der eigenen Seelensuppe verlangt natürlich Mut. Laut Romana Wiesinger zahlt er sich aber spätestens dann wieder aus, wenn nicht nur die Suppe beim Mittagstisch, sondern auch das Leben davor und danach wieder schmeckt.

Wesentlichen Einfluss darauf, ob das so ist und wie wir insgesamt essen, haben nicht zuletzt die sozialen Beziehungen, ist Wiesinger überzeugt. Das gemeinsame Kochen und Essen sei deshalb für die Psyche wichtiger als die Auswahl besonderer Speisen. Das gilt für Kinder und Pubertierende ebenso wie für Erwachsene, die sich im Arbeitsalltag manchmal mit unglaublichen Essensgewohnheiten – auch gegen ihre eigenen Überzeugungen – durchfüttern oder für pflegebedürftige, alte Menschen, die sich am Lebensabend bereits mit dem Schlucken oder dem Verdauen schwer tun.

„Ich mag jetzt nichts“ #

Kinder haben jedenfalls ein gutes Gefühl für ihre eigenen Bedürfnisse, weiß Wiesinger. In einer gesunden Ernährungsumgebung nehmen Eltern deshalb ihre Kinder ernst. „Ich mag jetzt nichts“ oder „Ich hab keinen Hunger“ hat genauso seine Berechtigung wie „Bitte, ich brauch jetzt wirklich schnell etwas zu essen“. Wenn Kinder das Spüren ihrer Bedürfnisse lernen können und dabei auch wahrgenommen werden, dann essen sie, wenn sie Hunger haben und entwickeln langfristig keine Probleme mit ihrem Essverhalten, meint die Therapeutin. Wenn zu Hause noch gekocht wird, lernen Kinder zudem später für sich selbst zu kochen und sich dadurch – körperlich wie seelisch – wichtig zu nehmen, meint die Therapeutin. Essen habe schließlich etwas mit Wertschätzung zu tun. Für sich selbst zu kochen, sich Zeit zu nehmen, den Tisch schön herzurichten und zu essen, sei für eine gesunde Entwicklung wichtig.

Mindestens so wichtig wie die Nahrung, die kredenzt und gegessen wird, sind laut Wiesinger also die Gespräche bei Tisch. Handy, Computer oder Tablet haben aus ihrer Sicht zwischen Gläsern, Tellern und Besteck nichts verloren. Sobald Menschen am Bildschirm lesen, ist das elektronische Gerät und nicht der Tischnachbar der Kommunikationspartner – und der Fokus liegt auch nicht mehr auf den inneren Bedürfnissen. „Menschen, die vor dem Fernseher essen, essen meist auch mehr, weil sie gar nicht spüren, wann sie satt sind“, betont die Psychotherapeutin.

Kaiserschmarren oder andere Zuckerbomben müssen deshalb aber nicht zu kurz kommen. „Bestellen Sie sich, worauf sie Lust haben“, empfiehlt Wiesinger und spricht sich auch gegen ein Naschverbot aus. Kinder lernen durch Vorbildwirkung. „Wenn Mama oder Papa genießen, dann schauen sich Kinder das ab“, sagt sie. „Für die Seele ist Genuss mit Maß und Ziel ein zentraler Bestandteil der gesunden Ernährung.“

DIE FURCHE, 1. Februar 2018


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