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42 september 1893
170 die sonst heute der gepeinigten Jugend fehlt. Aber die lauschende
Empfindlichkeit,dashelleGesichtundGehörseinerNervenfürdie
leisesten Reize ist von einer unheimlichen Feinheit, und aus seinen
seltsamerregtenSätzenkommtes,ohnedaßmanvorsichdieseEmp-
findung zu rechtfertigen wüßte, immer wie der kranke Hauch aus
175 denfieberschwülenKisseneiner schmerzlichenundblassenFrau.
Das Erste, was er schrieb, war eine Studie über die physiologie
de l’amour des Bourget, dieses müde Testament der erotischen
Verzweiflung. Eine Studie über die »Mutter« folgte. Das waren für
seinesiebzehnJahrewunderlicheStoffe,undauchinseinenGedich-
180 ten sind Züge eines reifen, traurigen Cynismus. So konnte er in
den Ruf eines vor der Zeit erfahrenen, ja verdorbenen Jünglings
kommen, und ich habe, als ich öffentlich seine Verse las, Hofrä-
the sich schamhaft entrüsten gesehen, die mit Mühe später durch
saftige Anekdoten wieder zu versöhnen waren. Aber wenn er bis-
185 weilen von unreinen Dingen spricht, geschieht es doch immer in
reinerRede,vielleichtwenigerausTugend,alsausErzogenheit, aus
Eleganz, aus Geschmack, der denn überhaupt seine vernehmlichste
Gabeist.Erwirdnichtcraß,wirdnichtbrutal,unddieGrenzender
guten Gesellschaft sind immer gewahrt. Er brauchte sich nicht erst
190 »auszutoben«;esgabkeinePeriodeder»Räuber«,sondernderJüng-
ling begann gleich wie ein Mann, der sich gebändigt, geklärt und in
derGewalthat.SohatervielleichtdieperversesteNatur,abererhat
sicherlichdie reinlichstenWerkeunterdenGenossen.
Schöne Dinge, die funkeln, sind seine Leidenschaft. Schmale weiße
195 Hände,dieprunkendenBettenderBorgiaundderVendramin,Sänf-
ten, Fächer und Pokale, Reiher, Silberfische, Oleander, die vollen
FarbenunddiebreitenKlängederRenaissancekommenimmerwie-
der. Man möchte ihn unter jene trunkenen Apostel der Schönheit
stellen, wie die englischen Prärafaeliten, die französischen Symbo-
200 listen, die vor der rauhen und gemeinen Oede des täglichen Lebens
in blühende Träume der Vergangenheit entlaufen. Aber er liebt es,
mit dem Naturalismus zu kokettiren, und neulich hat er diese natu-
ralistischeFormelderKunstgeschrieben:»Dennwiedasrebellische
Volk der großen Stadt hinausströmte auf den heiligen Berg, so lie-
205 fen unsere Schönheits- und Glücksgedanken in Schaareni fort von
uns, fort aus dem Alltag, und schlugen auf dem dämmernden Berg
derVergangenheit ihrprächtigesLager.AberdergroßeDichter,auf
denwirAllewarten,heißtMeneniusAgrippaundisteinweltkluger,
großer Herr: der wird mit wundervollen Rattenfängerfabeln, pur-
210 purnenTragödien,Spiegeln,ausdenenderWeltlaufgewaltig,düster
und funkelnd zurückstrahlt, die Verlaufenen zurücklocken, daß sie
wiederdem athmendenTageHofdienst thun,wiees sichziemt.«
Also: Epigone und Moderner, lyrisch und kritisch, krank und
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Arthur Schnitzler & Hermann Bahr
Briefwechsel, Aufzeichnungen, Dokumente 1891–1931
- Title
- Arthur Schnitzler & Hermann Bahr
- Subtitle
- Briefwechsel, Aufzeichnungen, Dokumente 1891–1931
- Editor
- Kurt Ifkovits
- Martin Anton Müller
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3228-7
- Size
- 14.6 x 23.4 cm
- Pages
- 1010
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- 1891 7
- 1892 18
- 1893 31
- 1894 64
- 1895 91
- 1896 115
- 1897 135
- 1898 160
- 1899 167
- 1900 173
- 1901 192
- 1902 222
- 1903 246
- 1904 288
- 1905 338
- 1906 371
- 1907 386
- 1908 401
- 1909 413
- 1910 433
- 1911 447
- 1912 463
- 1913 480
- 1914 492
- 1915 497
- 1916 502
- 1917 507
- 1918 510
- 1919 526
- 1920 536
- 1921 539
- 1922 547
- 1923 570
- 1924 583
- 1925 584
- 1926 585
- 1927 586
- 1928 588
- 1929 590
- 1930 593
- 1931 598
- 1932 604
- 1934 606
- 1936 607
- 1962 610
- Quellennachweis und Erläuterungen 632
- Buchausgaben im gegenseitigen Besitz 787
- Theaterbesuche 792
- Auszüge aus Schnitzlers Tagebuch 793
- Editorische Richtlinien 796
- Die Korrespondenz Bahr –Schnitzler 813
- Nachwort 820
- Dank 864
- Verzeichnis der Dokumente 866
- Korrespondenzpartner 902
- Register 916