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oktober 1905 365
erst am Ende, erst bei einer inneren Revision zu Hause gibt, indem
sievorwegausEigenemspielen,wasererstzuletztdurcheinenlang-
100 wierigenProzeßalsResultatgewinnt.Wirhaben im»Krug« immer
am Ende das Gefühl: würde er uns jetzt gleich noch einmal vor-
gespielt, so könnten wir erst lachen. Er braucht also Schauspieler,
die fähig sind, uns durch irgend eine geheime Macht, was der Dich-
ter versäumt, gleich schon vorempfinden zu lassen, noch bevor es
105 sich aus der Handlung ergibt, die so dramatisch ist als die Darstel-
lung ihrer Menschen undramatisch. Tieck muß dies schon gemerkt
haben.ErsagtindendramaturgischenBlätterneinmal:»KleistsDra-
men geben dem Schauspieler große Veranlassung, seine Kunst zu
zeigen, aber zugleich gehört es zu denallerschwierigsten Aufgaben,
110 sie befriedigend oder auch nur so aufzuführen, daß die Absichten
des Dichters nicht ganz verloren gehen. Alle diese Charaktere müs-
sen sehr scharf umrissen werden, das Kolorit ist grell und beides,
UmrißundFarbe,verschwindetzuZeitenbeinahwiederganz,und
dem Schauspieler ist die Ergänzung, gewissermaßen die Schöpfung,
115 unbedingtanvertraut.«Deutlicherausgedrückt:manhatbeiKleists
Gestalten immer das Gefühl, daß der Dichter ihren »Charakter«
eben durch den dramatischen Verlauf nur erst sucht; und wir müs-
sen mit ihm suchen, und wenn er ihn endlich gefunden hat, ist das
Stück schon aus, es endet mit seiner Entdeckung. Bei Shakespeare
120 auch, wird man vielleicht sagen. Ja, aber anders: Shakespeare deckt
im letzten Akt auf, als jetzt für den Verstand bewiesen, was wir
mit demGefühl schon inder ersten Szenegeheimnisvoll antizipiert
haben. (Worin Shakespeare wie das Leben ist, unser Leben selbst,
das auch nichts anderes mit uns tut.) Und eben dies, was Shake-
125 speare vor Kleist voraus hat, diese magische Macht, uns sogleich
fühlen zu lassen, was uns die dramatische Begebenheit dann erst an
den Gestalten erkennen läßt, muß diesem, wenn er wirken soll, der
Schauspieler geben. Ich weiß freilich heute nur drei, welchen ich es
fürden»Krug«zutrauenkann:Novelli,KainzundGirardi.
130 Was ich am »Grünen Kakadu« immer wieder bewundere, ist, daß
er ganz unmittelbar auf uns und doch keinen Augenblick als Kos-
tümwirkt.Sonstsagtmansichbei»historischen«Stückenentweder:
Aha,ermeintuns,erhatunsnurverkleidet,aberwirsind’s,unsgeht
esan,unserFallwirdverhandelt. (BeiShakespeare,Goethe,Schiller
135 immer.)Odermanweißgleich,daßeineVergangenheitgezeigtwer-
den soll, mit Gedanken, die wir nicht mehr denken, Gefühlen, die
uns fremd geworden sind, Menschen, die wir nicht mehr haben.
Schnitzlertriffteswunderbar,beideszuverbinden:das»Echte«mit
unserem neuen Gefühl. Niemals empfinden wir das als »Kostüm«,
140 wir sind sogleich in jene große Zeit entrückt. Wir spüren: Diese
warenanders, keiner istheute so,unserLebenhatdieseFormnicht
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Arthur Schnitzler & Hermann Bahr
Briefwechsel, Aufzeichnungen, Dokumente 1891–1931
- Title
- Arthur Schnitzler & Hermann Bahr
- Subtitle
- Briefwechsel, Aufzeichnungen, Dokumente 1891–1931
- Editor
- Kurt Ifkovits
- Martin Anton Müller
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3228-7
- Size
- 14.6 x 23.4 cm
- Pages
- 1010
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
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- 1934 606
- 1936 607
- 1962 610
- Quellennachweis und Erläuterungen 632
- Buchausgaben im gegenseitigen Besitz 787
- Theaterbesuche 792
- Auszüge aus Schnitzlers Tagebuch 793
- Editorische Richtlinien 796
- Die Korrespondenz Bahr –Schnitzler 813
- Nachwort 820
- Dank 864
- Verzeichnis der Dokumente 866
- Korrespondenzpartner 902
- Register 916