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558 mai 1922
einiger Zeit noch unser altes Österreich war? Nun, ich vermute:
20 da wird in hundert Jahren wieder jenes Österreich sein, wenn auch
vielleicht ein bißchen anders, ein bißchen verrückt, nämlich mehr
nach Osten, vielleicht auch unter einer anderen Firma, wahrschein-
lichuntereinemanderenNamen, ichdenke,daßesBöhmenheißen
wird, den heiligen Benes wird es als Erzvater verehren, und dieses
25 neu betitelte Reich, als Eckfenster Europas, wieder für die Länder
desAbendlandsgenausowichtig,geheimnisvollundunverständlich,
wieesunterdemaltenNamenwar,wirdnun,geradeweilesaufseine
neue Form sehr stolz sein wird, das Bedürfnis aller neuen Formen
haben:sichmitAhnenzuversehenundsichmöglichstweitzurück-
30 zudatieren; es wird leidenschaftlich historisch gesinnt sein. Und in
seinerUrgeschichtewirddasletzteKapitel,bevordasErwachender
Menschheit beginnt, ja von uns handeln: denk Dir, wie ungeheuer
interessantwirdannseinwerden,alsdie letztenStammväter,umdie
gleichsam der Urwald noch rauscht! Und wenn man dann die Sit-
35 ten, Denkweisen, Lebensarten des sanften Abendrots, in dem das
Österreich der Vorwelt verglomm, durchforscht haben wird, wird
man sich an den Künstler halten, der jenes Abendrot von 1890 bis
1920 am reinsten zu spiegeln, scheint. Und der, lieber Arthur, bist
Du!(DennichselberkommejadaschondeswegennichtinBetracht,
40 weil ichdasAbendrot füreinenSonnenaufganghielt; ichmußmich
im besten Fall mit der Unsterblichkeit eines Spaßvogels begnügen,
zumGaudiumderEnkel.)Duhast,wiekeinandererunteruns,den
letztenReizdesverschimmerndenWienmitzarterHandgefaßt.Du
warst der Arzt an seinem Sterbebett, Du hast es tiefer geliebt als
45 irgend einer von uns, weil Du schon wußtest daß keine Hoffnung
mehr war: gerade die namenlose Melancholie, die mich zuweilen
ungeduldig gegen Deine Werke, ja fast mit Dir selbst werden ließ,
sichertDirihreZukunft:alseinrührenderAbschiedvonÖsterreich
leben sie, so lang ein dankbares Erinnern an die Kaiserstadt nicht
50 ganz erloschen sein wird. Du bist der letzte Dichter ihrer Agonie
gewesen.
Unter den Plänen der Zeit, in der es fast aussah, als ob ich etwas
wie der Burgtheaterdirektor wäre, war auch der einer neuen Insze-
nierungi Deiner »Liebelei«, nämlich »im Kostüm«: die Dekoration
55 des ersten Aktes genau nach der Einrichtung Deiner Junggesellen-
wohnung von 1892 kopiert, das Zimmer des zweiten und dritten in
der gewissen vorstädtischen Mischung von ein paar ererbten ech-
ten Biedermeierstücken mit scheußlichster billiger nachgemachter
Tapezierherrlichkeit aus den siebziger Jahren; und alle durchaus in
60 der Tracht nach der Mode von damals, viel »echter« als in der Pre-
mière, zu deren Zeit Regisseure derlei »Nuancen« noch gar nicht
oderganzfalschverstanden.Hätte ichheutebeimTheaternochwas
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Arthur Schnitzler & Hermann Bahr
Briefwechsel, Aufzeichnungen, Dokumente 1891–1931
- Title
- Arthur Schnitzler & Hermann Bahr
- Subtitle
- Briefwechsel, Aufzeichnungen, Dokumente 1891–1931
- Editor
- Kurt Ifkovits
- Martin Anton Müller
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3228-7
- Size
- 14.6 x 23.4 cm
- Pages
- 1010
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- 1891 7
- 1892 18
- 1893 31
- 1894 64
- 1895 91
- 1896 115
- 1897 135
- 1898 160
- 1899 167
- 1900 173
- 1901 192
- 1902 222
- 1903 246
- 1904 288
- 1905 338
- 1906 371
- 1907 386
- 1908 401
- 1909 413
- 1910 433
- 1911 447
- 1912 463
- 1913 480
- 1914 492
- 1915 497
- 1916 502
- 1917 507
- 1918 510
- 1919 526
- 1920 536
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- 1931 598
- 1932 604
- 1934 606
- 1936 607
- 1962 610
- Quellennachweis und Erläuterungen 632
- Buchausgaben im gegenseitigen Besitz 787
- Theaterbesuche 792
- Auszüge aus Schnitzlers Tagebuch 793
- Editorische Richtlinien 796
- Die Korrespondenz Bahr –Schnitzler 813
- Nachwort 820
- Dank 864
- Verzeichnis der Dokumente 866
- Korrespondenzpartner 902
- Register 916