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LOTHAR
HÖBELT28
Regierung zu behaupten vermochte; Belcredi hingegen vertrat in Mähren
ein Minderheitenprogramm, das sich bei den Wahlen selbst mithilfe der un-
geliebten Regierung nur schwer durchsetzen ließ. Resigniert schrieb er im
Sommer 1871: „Im Großgrundbesitz ist ohne Hochdruck absolut nichts zu
hoffen.“67 Von der Empörung über den Umschwung in Wien erhoffte er sich
neue Anhänger: Diese Erfahrung „werde doch noch einige von unseren Blin-
den sehend machen.“68
Vielleicht war es dieser Situation geschuldet, wenn Belcredi zwar auf re-
gionaler Ebene die Funktionen seiner beiden böhmischen Freunde in einer
Person vereinigte, sie jedoch mit einer populistischen Strategie verband,
wie sie Thun und Clam fremd war. Belcredi kokettierte mit seinem Image
als Unruhestifter („ob ich mit phrygischer Mütze und roter Fahne prome-
niere“69), schon lange bevor er „zum Ärger der Gutgesinnten“ die Tabors be-
suchte und die „kolossale Menschenmasse und noch mehr ihre Haltung und
beispiellose Ordnung aufrichtig bewunderte.“70 Thun sah in der katholischen
Bewegung die Chance, eine übernationale Gemeinsamkeit als Fluchtpunkt
für eine österreichische Rechtspartei zu finden. Belcredi diente der politische
Katholizismus in erster Linie als Kampfmittel gegen die Liberalen. Zwar
hielt auch er den Nationalitätenstreit für eine Verirrung, hatte aber keine
Skrupel, ihn bei Gelegenheit auch ein wenig anzufachen.
Allerdings war auch das Verhältnis Belcredis zu seiner tschechischen Um-
gebung in den Siebzigerjahren gewissen Spannungen ausgesetzt. Auf den
ersten Blick könnte man den Grund dafür sogar so umschreiben: Die tsche-
chische Nationalpartei in Mähren unter der Führung des späteren Ministers
Alois Pražák war ihm nicht „tschechisch“, sprich: böhmisch genug – sie ver-
folgte einen pragmatischen Kurs, trennte sich von der böhmisch-staatsrecht-
lichen Partei und trat 1874 in den Reichsrat ein. Belcredi war stolz darauf,
nach Einführung der Direktwahlen 1873 von einem Landgemeindebezirk in
den Reichsrat gewählt worden zu sein. Doch er hielt – als einziger mähri-
scher Abgeordneter – auch weiterhin am Boykott der „Dezemberverfassung“
von 1867 fest und wurde daraufhin prompt seines Mandats für verlustig er-
klärt. Bei der Ergänzungswahl aber nominierte die Nationalpartei in seinem
Wahlbezirk einen Gegenkandidaten – und das mit Erfolg.
Belcredi leckte seine Wunden und setzte erst 1876 zum Gegenstoß an.
Nicht in seinen grundsätzlichen Sympathien, aber in seinen Bündnisstra-
tegien machte sich eine gewisse Akzentverschiebung bemerkbar. Er hielt
67 Brief an V. Brandl, 25.6.1871.
68 Ebd. (28.10.)
69 Tb. 6.2.1854.
70 Brief an Hošek, 30.6.1869.
Open Access © 2016 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Die Tagebücher des Grafen Egbert Belcredi 1850–1894
- Title
- Die Tagebücher des Grafen Egbert Belcredi 1850–1894
- Authors
- Lothar Höbelt
- Johannes Kalwoda
- Editor
- Jiří Malíř
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20067-3
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 1144
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Vorwort und Editionsrichtlinien 7
- Siglen- und Abkürzungsverzeichnis 11
- Lothar Höbelt: Graf Egbert Belcredi – der „echte“ Konservative 15
- Jiří Malíř: Antonín Okáč – Leben und Werk des Herausgebers der
- Tagebücher und Korrespondenz Egbert Belcredis 39
- Bildtafeln 65
- Tagebuchaufzeichnungen 73
- 1850 75
- 1851 91
- 1852 104
- 1853 126
- 1854 145
- 1855 156
- 1856 170
- 1857 182
- 1858 189
- 1859 193
- 1860 195
- 1862 199
- 1863 212
- 1864 223
- 1865 255
- 1866 262
- 1867 307
- 1868 339
- 1869 353
- 1870 355
- 1871 356
- 1872 367
- 1873 375
- 1874 384
- 1875 400
- 1876 449
- 1877 497
- 1878 504
- 1879 530
- 1880 565
- 1881 589
- 1882 611
- 1883 653
- 1884 700
- 1885 728
- 1886 770
- 1887 793
- 1888 838
- 1889 881
- 1890 905
- 1891 945
- 1892 979
- 1893 1016
- 1894 1042
- Anhang 1059
- Anhang 1: Promemoria Graf Egbert Belcredis: Ideen zu einer
- Reform des Adels 1059
- Anhang 2: Promemoria Egbert Belcredis [zum Vaterland] 1067
- Anhang 3: Promemoria Graf Egbert Belcredis für den Brünner
- Bischof Franz Bauer 1074
- Wiederkehrende Wörter und Wendungen 1079
- Tschechisch 1079
- Lateinisch 1081
- Ortsnamenkonkordanz 1082
- Deutsch – Tschechisch 1082
- Tschechisch – Deutsch 1086
- Literatur und Nachschlagewerke 1091
- Namensregister (Auswahl) 1115