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LÖSCH, 15. JUNI 1875 425
Abends beim Tee sprachen wir von dem kompletten Mangel einer Seel-
sorge für die über 100 000 Seelen betragende böhmische Bevölkerung von
Wien und die grobe Vernachlässigung der vornehmsten Pflicht des Bischofs.
Ich erzählte ihm die Geschichte jenes Pfarrers, der in eine böhmische Pfarre
an der mähr[ischen] Grenze kam und zu seinem Schreck mit seinen Pfarr-
kindern nicht sprechen konnte, wie sie mir vor Jahren der Prälat von Rai-
gern erzählte. Der gewissenhafte Pfarrer verlangte seine Versetzung in eine
deutsche Pfarre, wurde aber schroff zurückgewiesen und bedeutet zu blei-
ben, wohin man ihn gesandt habe. Nachdem er nun nach verlorenen 2 bis
3 Jahren genügend böhmisch mit unsäglicher Mühe gelernt, ward er – ohne
es zu verlangen – in eine deutsche Gegend versetzt.
Zur Bestätigung dieser unqualifizierbaren Seelsorge erzählte Meravig-
lia, vor wenig Jahren sei der Malteser Ordenspriester Slavik auf die slawi-
sche Ordenspfarre in Rabensburg in Niederösterreich installiert worden.1048
Dort fand er die Weisung des Bischofs – des Kardinals Rauscher – im Mo-
nat 3 Sonntage deutsch und 1 Sonntag böhmisch der nota bene stocksla-
wischen Bevölkerung zu predigen. Er half sich gegen den Unsinn und das
himmelschreiende Unrecht damit, dass er das Evangelium deutsch las und
einige Worte darüber sagte, um dann, da ihn niemand verstand, das Ganze
böhmisch zu wiederholen und in der Predigt weiter auszuführen.
Zur selben Zeit kam auch ein deutscher Schullehrer nach Rabensburg,
der, als er sich slawischen Kindern gegenüber sah, seine Versetzung be-
gehrte und erlangte. Die Schule blieb aber dann ganz ohne Lehrer und ward
aus Erbarmen durch den Kaplan versehn. Der Pfarrer aber ward gemaßre-
gelt und schikaniert, bis er dessen müde die Versetzung auf die materiell
viel geringere Pfarre Sta. Maria della victoria in Prag1049 erlangte.
Und das Memorandum, welches die Wiener Böhmen dem „gewissenhaf-
ten“ Hirten im Jänner überreichten, in welchem sie um Seelsorge bitten und
welches sie vor einigen Tagen im „Vaterland“ veröffentlichten, ist seit 6 Mo-
naten nicht beantwortet!1050
Lösch, 15. Juni 1875
Heute um 8 Uhr ins Kloster zur Religionsprüfung gelegentlich der kanoni-
schen Visitation. Wie immer bestanden die Mädchen sehr gut. Dann in die
1048 Rabensburg an der Thaya, an der mährischen Grenze gelegen, wurde 1919 nicht wie
Feldsberg und Unter-Themenau an die Tschechoslowakei abgetreten.
1049 Die Kirche Santa Maria della Vittoria (Maria vom Siege) auf der Prager Kleinseite.
1050 Denkschrift an Se. Eminenz Cardinal Rauscher wegen Einführung der böhmischen
Seelsorge in einigen Kirchen Wiens, in: Das Vaterland, 9.6.1875, 2. Sie weist das Datum
17.1.1875 auf.
Die Tagebücher des Grafen Egbert Belcredi 1850–1894
- Title
- Die Tagebücher des Grafen Egbert Belcredi 1850–1894
- Authors
- Lothar Höbelt
- Johannes Kalwoda
- Editor
- Jiří Malíř
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20067-3
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 1144
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Vorwort und Editionsrichtlinien 7
- Siglen- und Abkürzungsverzeichnis 11
- Lothar Höbelt: Graf Egbert Belcredi – der „echte“ Konservative 15
- Jiří Malíř: Antonín Okáč – Leben und Werk des Herausgebers der
- Tagebücher und Korrespondenz Egbert Belcredis 39
- Bildtafeln 65
- Tagebuchaufzeichnungen 73
- 1850 75
- 1851 91
- 1852 104
- 1853 126
- 1854 145
- 1855 156
- 1856 170
- 1857 182
- 1858 189
- 1859 193
- 1860 195
- 1862 199
- 1863 212
- 1864 223
- 1865 255
- 1866 262
- 1867 307
- 1868 339
- 1869 353
- 1870 355
- 1871 356
- 1872 367
- 1873 375
- 1874 384
- 1875 400
- 1876 449
- 1877 497
- 1878 504
- 1879 530
- 1880 565
- 1881 589
- 1882 611
- 1883 653
- 1884 700
- 1885 728
- 1886 770
- 1887 793
- 1888 838
- 1889 881
- 1890 905
- 1891 945
- 1892 979
- 1893 1016
- 1894 1042
- Anhang 1059
- Anhang 1: Promemoria Graf Egbert Belcredis: Ideen zu einer
- Reform des Adels 1059
- Anhang 2: Promemoria Egbert Belcredis [zum Vaterland] 1067
- Anhang 3: Promemoria Graf Egbert Belcredis für den Brünner
- Bischof Franz Bauer 1074
- Wiederkehrende Wörter und Wendungen 1079
- Tschechisch 1079
- Lateinisch 1081
- Ortsnamenkonkordanz 1082
- Deutsch – Tschechisch 1082
- Tschechisch – Deutsch 1086
- Literatur und Nachschlagewerke 1091
- Namensregister (Auswahl) 1115