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LÖSCH, 6. JULI 1882 631
Nach der hl. Messe eine Deputation des mähr[ischen] Zentralvereins der
Gewerbetreibenden aus Brünn empfangen, welche mir ein etwas konfuses
Projekt zur Bildung eines Vereins und Gründung eines Journals für gewerb-
liche Interessen vortrug und mein Urteil darüber erbat. Die Mitteilung des-
selben nach näherer Information versprochen.
Die Leute sind wenigstens tätig.
Die Post brachte wie gewöhnlich eine Anzahl Briefe, darunter einen des
Herrn von Schaeffer, der seinen angenehmen Besuch ansagt, und einen des
Mechanikers Schneider in Wien,1543 der ganz interessant meine in der Ver-
sammlung am 29. v. M. in Brünn gehaltene Rede, den Normalarbeitstag etc.,
bespricht. Schließlich erklärt er mich für einen Sozialisten.
Unverstand und Bosheit werden dies bald allgemein tun und damit meine
Reformbestrebungen auch in jenen Kreisen, welche denselben nicht von
vornherein abhold sind, lahm legen. Dann folgt der Krach, den ich verhin-
dern wollte, die Revolutionäre aber herbeiführen wollen. So wird auch hier
der Unverstand der Bosheit Handlangerdienste leisten!
Pfarrer Ján Novotný zu Tische herübergekommen. Einiges, die Redak-
tion des Hlas betreffend, und seine Haltung in den Gewerbe- und volkswirt-
schaftl[ichen] Fragen besprochen.
Dr. R[udolf] Meyer ist, da er schon im letzten Briefe über totale Schlaflo-
sigkeit klagte, wie ich besorge, ernstlich erkrankt. Er hätte sonst gewiss
über meinen Nachtragsbericht zum Gewerbegesetzentwurf und die Rede am
29. v. M. an mich und ins Vaterland geschrieben.
1543 Ernst Schneider (1845–1913), MöAH (1891–1907) (christlichsozial), „Mechaniker“ (Erzeu-
ger von Präzisionsinstrumenten: er beschäftigte rund fünfzig Arbeiter und war damals
gerade mit der Einrichtung der Sternwarte betraut) in Wien, einer der ersten Wortführer
der antisemitischen Bewegung, kandidierte 1882 in Hernals erstmals für den Reichsrat;
in seinen Briefen vom 3.7., 2. u. 9.8.1882 argumentierte Schneider, der Normalarbeitstag
könne nur unter der Voraussetzung gleicher Produktionsbedingungen mit der auslän-
dischen Konkurrenz, sprich: bei entsprechenden Schutzzöllen eingeführt werden, man
müsse dann aber auch Minimallöhne einführen. Er sei „Sozialist, so wie es jedermann ist,
der sich um öffentliche Angelegenheiten kümmert, so wie es Fürst Bismarck, so wie es
Sie, so wie Taaffe, so wie es wegen meiner Kronawetter ist“; Belcredi antwortete: „Ich bin
Sozialist, in dem Sinne, daß ich soziale Forderungen akzeptiere, um größere Ausbrüche
zu vermeiden.“ Schneider wollte den Gewerbe- und Arbeiterstand „österreichisch natio-
nal“ machen (weshalb er 1883 mit Schönerer brach); Belcredi missverstehe ihn, wenn er
glaube, er sei „für einen blutigen Kampf gegen das Judentum eingenommen“, frage sich
jedoch angesichts der lauen Haltung des Episkopats: „Hat der Klerus nicht alle Ursache,
dafür zu sorgen, dass der Krieg gegen die Juden einmal losgehe.“ Gegen Schneider publi-
zierte im Februar 1889 die Broschüre Oscar hein, Der Experte des Grafen Egbert Belcredi.
Porträt eines „Vereinigten Christen“, Wien 1889, nachdem sechs liberale Abgeordnete sich
geweigert hatten, einer Enquete beizuwohnen, zu der Schneider als Experte eingeladen
worden war; vgl. Boyer, Political Radicalism, 94.
Die Tagebücher des Grafen Egbert Belcredi 1850–1894
- Title
- Die Tagebücher des Grafen Egbert Belcredi 1850–1894
- Authors
- Lothar Höbelt
- Johannes Kalwoda
- Editor
- Jiří Malíř
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20067-3
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 1144
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Vorwort und Editionsrichtlinien 7
- Siglen- und Abkürzungsverzeichnis 11
- Lothar Höbelt: Graf Egbert Belcredi – der „echte“ Konservative 15
- Jiří Malíř: Antonín Okáč – Leben und Werk des Herausgebers der
- Tagebücher und Korrespondenz Egbert Belcredis 39
- Bildtafeln 65
- Tagebuchaufzeichnungen 73
- 1850 75
- 1851 91
- 1852 104
- 1853 126
- 1854 145
- 1855 156
- 1856 170
- 1857 182
- 1858 189
- 1859 193
- 1860 195
- 1862 199
- 1863 212
- 1864 223
- 1865 255
- 1866 262
- 1867 307
- 1868 339
- 1869 353
- 1870 355
- 1871 356
- 1872 367
- 1873 375
- 1874 384
- 1875 400
- 1876 449
- 1877 497
- 1878 504
- 1879 530
- 1880 565
- 1881 589
- 1882 611
- 1883 653
- 1884 700
- 1885 728
- 1886 770
- 1887 793
- 1888 838
- 1889 881
- 1890 905
- 1891 945
- 1892 979
- 1893 1016
- 1894 1042
- Anhang 1059
- Anhang 1: Promemoria Graf Egbert Belcredis: Ideen zu einer
- Reform des Adels 1059
- Anhang 2: Promemoria Egbert Belcredis [zum Vaterland] 1067
- Anhang 3: Promemoria Graf Egbert Belcredis für den Brünner
- Bischof Franz Bauer 1074
- Wiederkehrende Wörter und Wendungen 1079
- Tschechisch 1079
- Lateinisch 1081
- Ortsnamenkonkordanz 1082
- Deutsch – Tschechisch 1082
- Tschechisch – Deutsch 1086
- Literatur und Nachschlagewerke 1091
- Namensregister (Auswahl) 1115