Page - 135 - in Ernst Lothar - Schriftsteller, Kritiker, Theaterschaffender
Image of the Page - 135 -
Text of the Page - 135 -
6. 1938 – 1946: Exil – »Emigrieren ist eine Sache
für junge Menschen, die sich nicht erinnern« 1
6.1 Emigrant
Am 20. März 1938 verlässt Ernst Lothar mit seiner Tochter Johanna Österreich
mit der Bahn ĂĽber Feldkirch. Am selben Tag beziehen die beiden Quartier im
Haus von Lothars Bruder Hans MĂĽller in Einigen, im Kanton Bern. Seit 1930
lebte Hans in diesem kleinen Ort (1941: 381 Einwohner) am sĂĽd lichen Ufer des
Thunersees, der höchstens für seine Wallfahrtskirche, deren Ursprünge bis in das
siebente Jahrhundert reichen, bekannt ist. Fünf Tage später meldet sich Ernst
Lothar beim Polizei- Inspektorat (No. 12/8) in Spiez.2
Adrienne ist seit dem 2. März für das Theater in der Josefstadt auf einer
Tournee, die von Ă–sterreich ĂĽber die Tschechoslowakei, Ungarn, Jugoslawien,
Polen und Rumänien führt und am 6. April 1938 zu Ende geht. Gessner selbst
beendet die Tournee vorzeitig, bereits am 28. März beantragt sie ein Visum für
die Schweiz, seit dem 4. April ist sie in Spiez gemeldet.3
Gerade glĂĽck lich aus Ă–sterreich gefohen, scheint Lothar dennoch mit dem
Gedanken einer Rückkehr zu spielen. Es fällt ihm sicht lich schwer, sich zu den
Emigranten oder Flüchtlingen zu zählen, denen er einerseits als Fluchtmotiv
»politische Gründe« zuerkennt, die er auffälligerweise für sich nicht gegeben
sieht, wobei er andererseits in eine Dik tion verfällt, welche die Emigranten als
Menschen kategorisiert, die sich ihren (nicht näher definierten) Pfichten ent-
zögen. Um sich über seine Lage klar zu werden oder vielleicht eher aus dem
BedĂĽrfnis heraus, sich zu rechtfertigen, schreibt er noch im April an seinen
Direk
tionsnachfolger Robert Valberg:
Seit ich, meiner Erkrankung wegen, von Wien hierher abgereist bin, wo ich Gast sein
kann, quält mich die Erwägung am meisten, daß man mich – infolge dieser Abreise –
für einen Flüchtling oder Emigranten halten könnte. Daher geht mein Bestreben
zunächst dahin, über diesen Punkt volle Klarheit zu geben und zu erhalten.
1 EL: Das Wunder des Ăśberlebens, S. 169.
2 Vgl. Ă–sterreichischer Reisepass Dr. Ernst Lothar, ausgestellt am 3. Februar 1930. WBR, ZPH 922a.
3 Österreichischer Reisepass Adrienne Gessner, ausgestellt am 14. März 1935. a. a. O.
Open Access © 2016 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Ernst Lothar
Schriftsteller, Kritiker, Theaterschaffender
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ernst Lothar
- Subtitle
- Schriftsteller, Kritiker, Theaterschaffender
- Author
- Dagmar HeiĂźler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20145-8
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 484
- Keywords
- österreichischer Schriftsteller, unveröffentlichte Werke und Korrespondenz, literarische Einflüsse und Beziehungen, Rezeption, Emigration, Theater
- Category
- Biographien
Table of contents
- 1. Einleitung 9
- 2. Quellenlage 15
- 3. 1890 – 1925: Literarische Nachwuchshoffnung 27
- 4. 1925 – 1935: »Einer jener Kritiker, die auch ein Stück Theaterdirektor sind« 53
- 5. 1935 – 1938: Theater in der Josefstadt – Max Reinhardts »rechte Hand und linker Fuß« 99
- 6. 1938 – 1946: Exil – »Emigrieren ist eine Sache für junge Menschen, die sich nicht erinnern« 135
- 7. 1946 – 1950: Rückkehr – »… und in Lothars Lager war Österreich« 243
- 8. 1950 – 1959: »Von allen meinen Kritikern bin ich der unerbittlichste« 293
- 9. 1959 – 1974: »… und so muss ein Stückchen Torso für ein Stückchen Ganzes gelten« 335
- 10. Schluss 373
- Literaturverzeichnis 385
- Anhang 415
- Bibliographie Ernst Lothar 415
- Selbstständige Publikationen 415
- Unselbstständige Publikationen 421
- Inszenierungen 464
- Zeittafel 467
- Personenregister 473
- Werkregister 478