Page - 151 - in Kreuzenstein - Die mittelalterliche Burg als Konstruktion der Moderne
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Wandschichten und Raumebenen zu einem forciert raumhaltiÂ
gen architektonischen Aufbau : Der dreieckigen Grundform des
Turmes ist der sechseckige Raum derart eingeschrieben, dass dieÂ
ser an jeder zweiten Seite durch im Grundriss trapezförmige AnÂ
räume erweitert wird, die sich am Außenbau aber nur durch die
Fensteröffnungen abzeichnen. Dreiviertelsäulen mit KnospenÂ
kapitellen tragen die Rippen des steinernen Gewölbes, dessen
Felder mit plastischem Rankenwerk – nach einem mittlerweile
zerstörten mittelalterlichen Vorbild aus Friesach – gefüllt sind.451
Die Schildrippen wiederum werden von kleinen DreiviertelsäuÂ
len getragen, die auf der Höhe der Deckplatte der größeren Säulen
ansetzen, und ebenfalls Knospenkapitelle besitzen. In eine der
beiden fensterlosen Wände ist die Eingangstüre eingeschnitten,
die zweite trägt einen plastisch dekorierten Kaminmantel. Ein
erhöhter Erkerplatz, von dem sich die Aussicht auf KlosterneuÂ
burg und Wien bietet, ragt zugleich als Kanzel in den Raum. Die
ursprĂĽngliche Einrichtung des als intimes Interieur eines SammÂ
lers inszenierten Raumes bestand aus einer zentralen Sitzgruppe
mit Diwan und Teppichen ; in die Fenster waren zum Teil mittelalÂ
terliche Glasgemälde eingesetzt, Regale an den Wänden dienten
der Aufbewahrung von Waffen und europäischem, arabischem,
asiatischem und präkolumbischem Kunsthandwerk,452 von der
Decke hing ein gotischer Luster und ĂĽber der EingangstĂĽre war
Viktor Stauffers Porträt des deutschen Kaisers Wilhelm II. angeÂ
bracht, ein unübersehbares Zeichen von Wilczeks Wertschätzung
fĂĽr den Monarchen.453
Die Herrenstube zeigt, in welchem AusmaĂź hier lange traÂ
dierte und etablierte frĂĽhneuzeitliche Wohnvorstellungen in die
rekonstruierte mittelalterliche Lebenswelt rĂĽckprojiziert wurÂ
den : Als intimer RĂĽckzugsort des gelehrten Hausherrn, der sich
dort mit erlesenen Objekten umgibt – oder vorgibt, dies zu tun –,
steht die Herrenstube in der Tradition des Studiolos der italieniÂ
schen Renaissance.454 Zugleich erinnert das Vorhandensein eines
geschlechtsspezifisch kodierten Raumes aber auch an jene » HerÂ
renzimmer «, die fixer Bestandteil der bürgerlichen Wohnung des
19. Jahrhunderts waren. Der modische Diwan in der Raummitte,
in der Wohnung des Historismus ein unverzichtbares Requisit oriÂ
entalischer, exotischer Phantasien, zeigt nachdrĂĽcklich, dass hier
der Anspruch auf Rekonstruktion einer fiktiven Vergangenheit
in Kontakt bzw. Konflikt mit ausgesprochen gegenwärtigen VorÂ
stellungen von wohnlichem Komfort und der angemessenen AusÂ
staffierung der unmittelbaren Lebensumgebung geriet. Ăśber die
Persönlichkeit Wilczeks verrät allerdings auch dieser privateste
Raum der Burg so gut wie nichts ; seine Privatheit wirkt wie fĂĽr
den Fotografen arrangiert. 151Interieurs
Kreuzenstein
Die mittelalterliche Burg als Konstruktion der Moderne
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Kreuzenstein
- Subtitle
- Die mittelalterliche Burg als Konstruktion der Moderne
- Author
- Andreas Nierhaus
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79557-5
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 258