Page - 202 - in Kreuzenstein - Die mittelalterliche Burg als Konstruktion der Moderne
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oder besser, einer spezifischen und zugleich vollkommen fiktiÂ
ven räumlichen Situation als Figuration einer erfundenen VerÂ
gangenheit, wird Kreuzenstein zur Heterotopie, zu einer real verÂ
wirklichten Utopie des späten 19. Jahrhunderts.
Auch der Themenpark ist als » kĂĽnstliches Paradies « eine HeÂ
terotopie.611 Seine bereits um 1900 ausgeprägten Mechanismen
sind gut dazu geeignet, auch die spezifische kulturelle Position
und Funktion Kreuzensteins zu erhellen.612 Schon der Begriff
» Themenpark « macht die notwendige räumliche Abgrenzung von
der umgebenden Realität und die inhaltliche Fokussierung deutÂ
lich, die im historischen Themenpark eine zusätzliche geschichtÂ
liche Dimension erhält, indem hier die fremdartigen Reize der
Vergangenheit » konsumiert « werden.613 Ein wesentliches MerkÂ
mal aller Themenparks ist die – dem Publikum bewusste – vollÂ
ständige Künstlichkeit, geht es doch hier niemals um Täuschung,
sondern um Illusion. Zum Tragen kommt dabei eine » Ästhetik
der Immersion «, die, wie Laura Bieger schreibt, » eine Ästhetik
des Eintauchens, ein kalkuliertes Spiel mit der Auflösung von DiÂ
stanz [ ist ]. Sie ist eine Ästhetik des emphatischen körperlichen
Erlebens und keine der kĂĽhlen Interpretation. Und : sie ist eine
Ă„sthetik des Raumes, da sich das Eintaucherleben in einer VerÂ
wischung der Grenze zwischen Bildraum und Realraum vollzieht.
Immersive Räume sind [ … ] Räume, in denen Welt und Bild sich
überblenden und wir buchstäblich dazu eingeladen sind, uns in
die Welt des Bildes zu begeben und in ihr zu bewegen. «614
Die ersten modernen Themenparks entstanden im Rahmen
großer Ausstellungen, wo zunächst die virtuelle Reise im Raum
im Vordergrund stand. Auf der Wiener Weltausstellung 1873 zum
Beispiel, die der Bauherr von Kreuzenstein in offizieller Funktion
begleitete,615 war erstmals eine ganze Reihe von Pavillons zu seÂ
hen, die das BedĂĽrfnis des Publikums nach dem Erlebnis des ExoÂ
tischen befriedigten : Neben der groĂźen Ă„gyptischen Baugruppe
〚 120 〛 zeugten türkische, persische und allgemein » orientalische «
Bauten von der starken Präsenz der arabischen Länder auf dieser
Ausstellung und entfĂĽhrten die Besucher in eine fĂĽr die meisten
noch unerreichbare Welt, die das europäische Phantasma des OriÂ
ents zugleich illustrierte und beflĂĽgelte. Die Pavillons folgten oft
bekannten historischen Vorbildern, bisweilen wurden diese sogar
originalgetreu rekonstruiert.616 Das Erlebnis einer in diesem UmÂ
fang damals völlig neuartigen Inszenierung exotischer bzw. histoÂ
rischer Architektur auf der Wiener Weltausstellung hat Wilczek
bei seinen Entschluss, im Jahr darauf mit dem Bau einer mittelalÂ
terlichen Burg zu beginnen, mit Sicherheit beeinflusst. Dem ExoÂ
tischen folgte bald das Historische : Der » erste Versuch einer plastiÂ
schen Illustration entschwundener Zeiten «617 – zugleich Reaktion
202 Mediale Korrespondenzen
Kreuzenstein
Die mittelalterliche Burg als Konstruktion der Moderne
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Kreuzenstein
- Subtitle
- Die mittelalterliche Burg als Konstruktion der Moderne
- Author
- Andreas Nierhaus
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79557-5
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 258