Page - 206 - in Kreuzenstein - Die mittelalterliche Burg als Konstruktion der Moderne
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naturgemäß statisches Bild, plötzlich und fĂĽr wenige AugenÂ
blicke in seiner fiktiven räumlichen und körperhaften AusdehÂ
nung zu erfahren – und nicht zuletzt wiederzuerkennen –, herÂ
gestellt durch lebende Menschen, die sich während dieser Zeit
bemĂĽhen, ihre Bewegungen auf ein schier unmenschliches MiÂ
nimum zu reduzieren. 〚 25 〛 Täuschend echt soll die Inszenierung
wirken, wenn sich auch keiner der Zuseher tatsächlich von eiÂ
nem solchen Anblick täuschen lassen würde ; was dagegen zählt,
ist das alte illusionistische Spiel mit Bewegung und Statik, Raum
und Fläche. Lebendig wird das Tableau vivant durch die physische
Präsenz und Lebendigkeit seiner Körper, deren Bewegung, da sie
sich mit der Starrheit des Bildpersonals in Wettstreit befinden,
stets nur eine potenzielle ist.632
Kreuzenstein lässt sich als Gesamtes gut mit dem IllusionisÂ
mus des Tableau vivant vergleichen, operiert es doch mit durchaus
ähnlichen Reizen : Völlig unerwartet – und der historischen Logik
folgend unmöglich – steht hier eine offenbar völlig intakte mittelÂ
alterliche Burg vor uns, nicht in der retrospektiven bildlichen DarÂ
stellung, sondern gegenwärtig, in allen Details greifbar, physisch
anwesend. Lebendig ist Kreuzenstein nicht durch das Stillhalten
der Körper, denn das lebende Bild, das wir sehen und obendrein
auch noch betreten können, ist menschenleer. An die Stelle der
Menschen, das wurde bereits gesagt, sind hier die Dinge getreten.
Und im Gegensatz zum herkömmlichen Tableau vivant, das seiÂ
nem Wesen nach flĂĽchtig ist und bestenfalls durch fotografische
Reproduktion verewigt wird,633 sollte in Kreuzenstein auch nach
Stunden, Jahren und Jahrzehnten alles an seinem Platz bleiben.
Auch abseits von Kreuzenstein trat Wilczek als Gestalter LeÂ
bender Bilder auf : Der HuldigungsÂ
Festzug anlässlich des sechÂ
zigsten Thronjubiläums Kaiser Franz Josephs am 12. Juni 1908, ein
gleichsam in Bewegung versetztes Tableau vivant, bildete einen
späten Höhepunkt im öffentlichen Leben Wilczeks. 〚 9 〛 Es war,
so heißt es im offiziellen Programm, die Absicht, dem Kaiser » die
Vergangenheit des berĂĽhmten Hauses, dessen erhabenÂ
wĂĽrdiges
Mitglied er ist, in farbenprächtigen, vergangene Wirklichkeit fast
neu schaffenden, lebendig bewegten Bildern zu zeigen. Die VerÂ
gangenheit Ă–sterreichs huldige dem groĂźen Nachkommen, das
sollte der Sinn des Zuges sein [ … ]. «634 Die zahlreichen Parallelen
zwischen dem HuldigungsÂ
Festzug von 1908 – » ein kulturhistoÂ
risches Bild voll Farbe und Pracht «635 – und dem HolzschnittÂ
TriÂ
umphzug Kaiser Maximilians I. gehen auf Wilczek als den KonÂ
zepteur des Festzugs zurĂĽck, der mit der Reinszenierung habsÂ
burgischer Geschichte in Form mobiler tableaux vivants und der
Huldigung der Völker den Triumphzug des » letzten Ritters « als
» Mummerei « nun endlich in die dritte Dimension umsetzte. Die
206 Mediale Korrespondenzen
Kreuzenstein
Die mittelalterliche Burg als Konstruktion der Moderne
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Kreuzenstein
- Subtitle
- Die mittelalterliche Burg als Konstruktion der Moderne
- Author
- Andreas Nierhaus
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79557-5
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 258