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23Wiens
Zeitungsstraße
ge, welche die Bilder des Entsetzens betrachten
wollte, förmlich in Belagerungszustand versetzt, so
daß es Schwierigkeiten machte, in das Local selbst
zu gelangen. Es mußten außerordentliche Anstren-
gungen gemacht werden, um den Weg Jenen, die in
das Local gelangen wollten, frei zu halten, und deren
waren nicht wenige. Ein Heer von Zeitungsausträgern
stürmte unsere Thüren, um schleunigst neue Num-
mern in die Verschleißlocalitäten, welche nicht genug
Nummern erhalten konnten, zu tragen. Telegraphen-
diener kamen, welche Bestellungen der Provinz auf
die Sensationsnummer überbrachten, die vornehms-
ten Damen wie die Frau des Arbeiters drängten sich
an unseren Schaltern, um ein Exemplar zu erhalten,
es herrschte in der Schulerstraße und auch in un-
serem Local ein Treiben, wie es wohl bis nun keine
Zeitungsexpedition erlebt hat. Zur Charakteristik die-
ses Treibens wollen wir die Thatsache anführen, daß
am Donnerstag nicht weniger als 46 000 Exemplare
durch unsere Expedition in das Publicum gebracht
wurden. 46 000 Nummern fanden an einem einzigen
Tage Absatz, allein diese Ziffer stellt bloß einen ver-
schwindenden Bruchtheil der Leser des Blattes dar.
Man mußte sehen, wie Derjenige, dem es gelungen
war, ein Blatt zu erhalten, auf die Straße tretend, um-
Zeitungsbericht schürt die kollektive Erregung wei-
ter, der Voyeurismus erreicht einen Höhepunkt. Die
enorme Nachfrage nach der Zeitungsausgabe reißt
tagelang nicht ab. Vor dem Eingang des Interessan-
ten Blattes, aber auch vor anderen Redaktionen in
der Schulerstraße spielen sich dramatische Szenen
ab. „Die Schulerstraße“, so heißt es im Interessanten
Blatt weiter, „ist an einen lebhaften Verkehr gewöhnt,
und ein Gedränge, wie man es sonst in Wien nicht zu
häufig in den Straßen findet, ist hier nicht auffällig.
Allein einen so lebhaften Verkehr wie in der abgelau-
fenen Woche, ein solches Stoßen und heftiges Drän-
gen hat die Schulerstraße noch nicht erlebt. Der Wa-
genverkehr war thatsächlich aufgehoben, und es ist
nur zu verwundern, daß in der engen Straße sich kein
Unfall ereignete. Die Menge, welche die Zeitungsgas-
se, Kopf an Kopf gedrängt, dicht erfüllte, staute sich
vor dem Hause Nummer 14, in welchem sich unsere
Expedition befindet, vor den Auslagefenstern des ‚In-
teressanten Blattes‘, welche die letzte Nummer mit
den Bildern, die die Verhaftung des Mädchenmörders
Schenk, seines Hauptgehilfen und seiner Opfer, wie
die Scene der Abschlachtung der Kinder des Banquirs
Eifert darstellen, enthielten. Unser Expeditionslocal
war von der neugierigen und theilnahmslosen Men- Abb. 1 „In der Wiener
Zeitungsgasse. Das Treiben in
der Schulerstraße am Tage der
Ausgabe der letzten
Nummer
des ‚Interessanten Blattes‘ vor
unserem Expeditionslocale“.
Das interessante Blatt, 24.
Januar 1984, S. 8.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Subtitle
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Author
- Anton Holzer
- Publisher
- Primus Verlag
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Size
- 23.0 x 29.0 cm
- Pages
- 498
- Keywords
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Category
- Medien
Table of contents
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang