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44 Die Jagd nach Sensationen · Pioniere der Pressefotografie
ten sie erfolgreich als Pressefotografen (Abb. 9). Mer-
tens (eigentlich Matisz) ist die erste österreichische
Pressefotografin.8 Sie stammt aus dem ungarischen
Kaschau (heute Kos˘ice) und veröffentlicht 1903 ihre
ersten Bilder in Wiener illustrierten Zeitungen. Sie
spezialisiert sich auf gesellschaftliche und soziale Er-
eignisse, fotografiert aber auch die kaiserliche Fami-
lie und dokumentiert hie und da militärische Festlich-
keiten. Bekannt wird sie mir ihren Schauspieler- und
Künstlerporträts, die sie nicht im Atelier, sondern in
den Wohnungen der Porträtierten aufnimmt. Zusam-
men mit Charles Scolik jun. liefert sie auch Bildmate-
rial für Reportagen und Porträtserien. 1908 trennen
sich Mertens und Scolik geschäftlich, die Fotografin
arbeitet nun wieder hauptsächlich im Atelier, in der
Presse veröffentlicht sie kaum noch etwas. Sie stirbt
1935 in Wien. Heinrich Schuhmann sen., geb. 1854, ist schon
50 Jahre alt, als er 1904 mit der Pressefotografie be-
ginnt.9 Der aus Hessen stammende Fotograf ist in den
ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts einer
der aktivsten und besten Zeitungsfotografen Wiens.
Er ist der erste Fotograf, der ausschließlich für die il-
lustrierten Zeitungen tätig ist und daneben kein eige-
nes Atelier für Laufkunden unterhält. Als Pressefoto-
graf neuen Typs ist er auf der Jagd nach den jüngsten
Sensationen ständig unterwegs. Sein Radius ist nicht
allein auf Wien beschränkt, er fotografiert auch in
der näheren und weiteren Umgebung der Stadt, so-
fern die Ereignisse interessant und spektakulär sind.
Am 26. August 1908 beispielsweise erscheint eine
Aufnahme von ihm in den Wiener Bildern. Sie zeigt
eine tote Frau, die kurz zuvor am Hochschneeberg
entdeckt worden war (Abb. 10). Im Beitrag zum Bild
wird die Sensation gnadenlos ausgeschlachtet und
in allen Details ausgeleuchtet. „Eine Touristengesell-
schaft“, so die Zeitung, „fand am 15. August auf dem
Hochschneeberg (…) die Leiche einer ungefähr 30
Jahre alten Frau, die in dem Gerölle auf dem Rücken
lag, wie dies aus unserem Bilde ersichtlich ist. Die
Tote hatte zwei Schußwunden in der Brust, von deren
(sic!) jede tödlich war. Neben der Leiche fand man
einen sechsläufigen Revolver, aus dem jedoch bereits
fünf Schüsse fehlten. Mit Hilfe eines Krankenkassen-
zettels, der bei der Leiche gefunden wurde, gelang es,
deren Identität festzustellen. Die Selbstmörderin war
die Besitzerin einer Tabaktrafik in Ottakring, Wilhel-
Abb. 9 Die Erzherzöge Franz
Ferdinand
und Josef Ferdinand
von Toskana im südmährischen
Göding (heute: Hodonín).
Der
Samstag, 12.
Januar
1907,
Titelseite.
Foto: Charles Scolik
jun. und Marie Mertens.
Abb. 10 „Selbstmord einer
Wienerin auf dem Hochschnee-
berg“. Wiener Bilder, 26. Au-
gust 1908, S. 11.
Foto: Heinrich
Schuhmann sen.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Subtitle
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Author
- Anton Holzer
- Publisher
- Primus Verlag
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Size
- 23.0 x 29.0 cm
- Pages
- 498
- Keywords
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Category
- Medien
Table of contents
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang