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55Augenzeugen
– Die Erfindung der Authentizität
verpresse und der populären Tagespresse (wie etwa
dem Illustrierten Wiener Extrablatt), die den Skan-
dalthemen ebenfalls großen Platz einräumt, fließend.
Die illustrierten Wochenzeitungen wie Das interes-
sante Blatt, die Wiener Bilder oder die Österreichische
Illustrierte Zeitung achten allerdings sorgsam darauf,
in Themenwahl und Aufmachung gebührend Abstand
zu diesem verrufenen Zeitungstyp einzuhalten.
Augenzeugen – Die Erfindung der Authentizität
Die Ablösung der Zeichnung durch die Fotogra-
fie führt, darauf hat Ulrich Keller hingewiesen, zu
einer Umschichtung des Authentizitätsdiskurses.13
Bis kurz vor 1900 gelten Fotografien im Vergleich zu
Zeichnungen in der illustrierten Presse keineswegs
als authentischer. Um 1900 ändert sich das. Nicht
nur das fotografische Bild als solches gewinnt an
Glaubwürdigkeit, es etabliert sich ein umfangreiches
System der Beglaubigung von fotografischen Bildern.
Parallel dazu verliert die Zeichnung als Nachrichten-
bild zunehmend an Kredit. Im Laufe der 1890er Jahre
taucht beim Abdruck von Zeichnungen in der Legen-
de immer öfter der beglaubigende Zusatz „nach einer
photographischen Aufnahme“ auf. Damit verschiebt
sich das Konzept der Augenzeugenschaft grundle-
gend. Im gesamten 19. Jahrhundert galt im Bereich
der illustrierten Presse der Zeichner als wichtigster
Augenzeuge aktueller Ereignisse. Nun wird er durch
den Fotografen abgelöst. Während der Zeichner die
Nähe zum Geschehen dramaturgisch herstellt, etwa
indem er den Betrachter mitten in die Szene eintau-
chen lässt, ist die fotografische Nähe anderer Natur.
Das Pressefoto, das um 1900 an die Stelle der Zeich-
nung tritt, suggeriert diese Nähe nicht nur, sondern
stellt sie unmittelbar her. Der Fotograf ist der privile-
gierte Augenzeuge. Wenn er eine Aufnahme macht,
muss er zwangsläufig vor Ort sein. Seine Bilder wer-
den nun zu unumstößlichen Beweisstücken. Aber
auch die fotografischen Bilder, die jetzt die Auszeich-
nung des Authentischen tragen, sind keine unmit-
telbaren Wiedergaben der Wirklichkeit. Im Zuge der
Veröffentlichung durchlaufen die Fotos – das ist nicht
zu vergessen – einen längeren Prozess der Bearbei-
tung. Dieser reicht von Manipulationen wie Beschnei- dung, Vergrößerung/Verkleinerung, Freistellung bis
hin zur Retusche, die bis weit in die Zwischenkriegs-
zeit hinein üblich ist.14
Das neue Konzept der fotografischen Authentizität
setzt sich in der illustrierten Presse nicht mit einem
Schlag durch. Es taucht um 1890 auf und ist im ers-
ten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts bereits fest
verankert. Mit der Zunahme des Fotoanteils in der
Presse ändert sich auch die Art der Bilder. Waren um
1890 noch häufig Atelierfotos, die in einem anderen
Zusammenhang, etwa im Zuge eines Porträtauftrags,
entstanden sind, als Zeitungsbilder „zweitverwertet“
worden, so liefern ab Mitte der 1890er Jahre immer
öfter eigene fest angestellte oder freiberuflich ar-
beitende Zeitungsfotografen die Bilder. Die Aufgabe
dieses neuen Berufszweigs, der „Illustrations- oder
Spezialphotographen“, ist es, die Ereignisse vor Ort
(und eben nicht im Studio) abzulichten. In einem lie-
bevollen Porträt beschreiben die Wiener Bilder im Ja-
nuar 1904 die Aufgaben des Pressefotografen, der in-
zwischen zum Hauptlieferanten fotografischer Bilder
geworden ist: „Unsere Leser haben allwöchentlich Ge-
legenheit, die Arbeiten unserer Spezialphotographen
daheim und in der Fremde im Blatte zu lesen und in
ihrem bequemen Lehnstuhl mit Ruhe und Muße die
interessanten Bilder zu besichtigen, welche ihnen der
allzeit getreue Apparat vermittelt. Nicht ebenso gut
hat es der Photograph selbst, der mit allerlei widrigen
Gegnern zu kämpfen hat – in erster Linie mit seinem
Hauptfaktor, der Sonne, die an der unbegreiflichen
Kaprize leidet, nicht immer gerade dort und in der
notwendigen Stärke zu scheinen, die man eben zu
einer guten Aufnahme benötigt. Regen, Nebel, Wind
und anderes sind die weiteren treuen Anhänger, die
dem Photographen im Freien seine Arbeit erschwe-
ren, wenn nicht gar ganz unmöglich machen und
schließlich, last but not least, sind es die lieben neu-
gierigen Menschenkinder von der reiferen Jugend
aufwärts, die ihm sein Handwerk stören.“15
Die Pressefotografen arbeiten also vorwiegend im
Freien. Ausgerüstet sind sie häufig mit Klappkame-
ras. In der Regel führen sie ein Stativ mit sich, als
Negativmaterial verwenden sie oft Wechselkassetten
zu je zwölf Glasplatten im Format 13 × 18. In einem
frühen Handbuch für Pressefotografen aus dem Jahr
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Subtitle
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Author
- Anton Holzer
- Publisher
- Primus Verlag
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Size
- 23.0 x 29.0 cm
- Pages
- 498
- Keywords
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Category
- Medien
Table of contents
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang