Page - 56 - in Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. - Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945

56 1908 heißt es: „Zu aktuellen Illustrations-Aufnah- men, d. h. Aufnahmen von einer unmittelbaren Be- deutung, die auf der Tagesordnung stehen, gehören im allgemeinen solche von Tagesereignissen, wie Festlichkeiten, Katastrophen, Unglücksfällen, Persön- lichkeiten, die das Tagesgespräch bilden, sportlichen Veranstaltungen, theatralischen Premieren, neuen Varieté-Tricks (Abb. 5), Erfindungen, Denkmälern, Bauwerken, Kunstschöpfungen etc.“16 Um an diese Bilder heranzukommen, müssen die Pressefotografen ständig unterwegs sein und oft weite Wege zurückle- gen. Geschwindigkeit ist nun alles. Die Fotos, die als Erste in der Redaktion eintreffen, haben die größten Chancen, abgedruckt zu werden. Daher rät der Autor des Lehrbuchs Die Illustrations-Photographie angehen- den Pressefotografen, von einer Bildbearbeitung ab- zusehen: „Retouche der Platten ist Zeitvergeudung.“17 Die geografische Reichweite der Pressefotografen nimmt zwar zu, ist aber dennoch begrenzt. Daher setzt die illustrierte Presse auf zwei Strategien, um auch aus entfernten Gebieten aktuelle Nachrichten- fotos zu bekommen: die Kooperation mit Fotoagen- turen, die Pressefotografien national und internatio- nal vertreiben, und den Aufruf an die Fotoamateure unter den Zeitungslesern, Fotos einzuschicken. Der professionelle Handel mit Fotografien beginnt Mit- te der 1890er Jahre, ausgehend von den USA und Deutschland (v. a. Berlin).18 Um 1900 tauchen auch in Wien die ersten Agenturen auf, die Fotos an die illustrierte Presse verkaufen, etwa die Fotohandels- firma R. Lechner (Wilh. Müller).19 Zur selben Zeit beginnen international tätige Fotoagenturen, Bilder aus dem englischsprachigen und deutschen Ausland an Wiener Blätter zu verkaufen.20 Die Veröffentlichung von Amateurfotografien be- ginnt ebenfalls kurz vor der Jahrhundertwende. Am 6. Juni 1895 druckt Das interessante Blatt einen Auf- ruf, der in den folgenden Monaten regelmäßig wie- derholt wird: „Die Redaction des Interessanten Blattes bittet alle Photographen und Amateurphotographen im Falle sie Aufnahmen von Festlichkeiten, größe- ren Katastrophen und Unglücksfällen, sowie von sonstigen interessanten Tagesereignissen machen, ihr möglichst rasch Photographien, wenn auch nicht retouchirt, einzusenden, damit dieselben im ‚Interes- santen Blatt‘ reproducirt werden.“21 Einige Zeit später wenden sich auch die Wiener Bilder mit einem ähnli- chen Aufruf an ihre Leser.22 Diesen Einladungen leisten zahlreiche Leser Folge und tatsächlich steigt der Anteil von Amateuraufnah- men, die in der illustrierten Presse gedruckt werden, in den folgenden Jahren deutlich an. Die Amateure, die oft mit leichten, lichtstarken, meist teuren Kame- ras unterwegs sind23, berichten vorwiegend über klei- ne und große Sensationen, Feierlichkeiten und Katas- trophen aus der Provinz. Anfang 1907 resümiert Das interessante Blatt über diese neuen Bilderlieferanten: „Oft sind Berufsphotographen gar nicht in der Lage, bei manchem Ereignis zu intervenieren. Und da hel- fen uns unzählige gute Freunde aus, die wir in den allermeisten Fällen nur durch den Dienst, den sie uns spontan leisten, kennen lernen: die riesige Schar der Abb. 5  Der  Kraft-Jongleur  Paul  Spadoni  stemmt  ein  Kutschen- gerüst  mit  den  Zähnen.  Das interessante Blatt,  15.  Februar  1900,  S.  6.  Foto:  Rudolf  Mar- tinelli.