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94 Als die Männer fliegen lernten · Die ersten Wiener Flugschauen
„Der Kaiser, der während der Flugbewegungen
sich mehrmals auch an den Impresario Müller wand-
te und sich von ihm seine jeweiligen Höheschätzun-
gen bestätigen ließ, die zutreffend waren, trat, als
er Blériot zur Erde kommen sah, weit vor und ging
dem Luftschiffer entgegen, der seinen Sitz verließ.
Der Kaiser reichte Blériot, der die Mütze abnahm, die
Hand und schüttelte sie kräftig. ‚Es war ein sehr inte-
ressantes Schauspiel‘, sagte der Kaiser. ‚Ich bewunde-
re den Mut und die Ausdauer, mit dem Sie das Werk
geschaffen haben. Allein, es hat alle Mühe gelohnt.
Die Stabilität des Apparats ist ebenso vorzüglich, wie
die Sicherheit der Operationen.‘ Nach einem Dankes-
wort Blériots fragte der Kaiser: ‚Ist das Fahren in
der Luft und Dirigieren der Mechanik anstrengend?‘
Blériot erwiderte. ‚Jetzt nicht mehr, Majestät. Jetzt ist
es das reine Vergnügen für mich.‘ Danach trat der
Kaiser mit einer leichten Verneigung und den Wor-
ten: ‚Sehr hübsch! In der Tat sehr hübsch!‘ ein wenig
zurück.“13
22 Minuten dauert der erste Flug. Blériot steigt bis
zu 70 Meter hoch auf und dreht seine Runden über
dem Flugfeld mit einer Geschwindigkeit von rund 50
Kilometern pro Stunde. Das Publikum ist begeistert.
Blériot landet, nimmt vom Monarchen die Glückwün-
sche entgegen und bittet diesen, noch zu einem zwei-
ten Flug zu bleiben. Er „vollführte nun durch 16 1/2
Minuten die kühnsten Manöver, wobei sich der Ap-
parat bei den scharfen Wendungen oft ganz seitwärts
neigte.“14 Nach der zweiten Landung zieht sich der Kaiser unter brausenden Hochrufen zurück. Blériot
flüchtet, so berichtet die Presse, vor den stürmischen
Ovationen der Zuschauermassen in sein Auto und
kehrt ebenfalls in die Stadt zurück.
Wenige Tage später widmen die Wiener Bilder dem
Ereignis vom Wochenende die Titelseite. Unter der
Schlagzeile „Blériots Flug vor dem Kaiser“ findet sich
eine Zeichnung, die den Kaiser inmitten der aristo-
kratischen Gesellschaft am Rande des Flugfeldes
zeigt (Abb. 2). Während er in ein Gespräch mit der
Frau Blériots vertieft ist, zieht im Hintergrund die
Flugmaschine vorbei. „Auf der Simmeringer Haide“,
so heißt es im Innenteil derselben Nummer, „ist et-
was geschehen, was tausende Wiener, die zugegen
waren, dereinst ihren Kindern und Kindeskindern er-
zählen werden. Sie waren dabei, als hier zum ersten
Male gesehen wurde, was vor wenigen Jahren nur als
Traum von Sonderlingen gelten konnte. Die Erden-
schwere zu überwinden, nicht durch Gase, sondern
durch den Auftrieb der Luft, wie es der Vogel macht,
durch die Nachahmung der Natur und durch Ablau-
schen aller Widerstandsgesetze der Luft, ist so neu,
daß sich kaum sagen lässt, es wäre schon früher in
den Vorstellungen gewesen.“15
Schwierigkeiten der Wahrnehmung
Warum verwenden die Wiener Bilder für ihre Titel-
illustration eine Zeichnung und nicht eine Fotografie?
Immerhin hat sich in der illustrierten Wochenpresse
das Foto bereits als dominantes Bildmedium durch-
gesetzt. Zur Bebilderung mancher Themen greifen
die Redaktionen der illustrierten Blätter aber immer
noch auf die Zeichnung zurück. Diese ist eher als die
Fotografie imstande, eine komplexe Szene visuell zu
vereinfachen und verdichten. Ebenso gelingt es ihr
besser, unterschiedliche, nacheinander stattfindende
Momente in ein und demselben Bild zusammenzu-
führen, etwa das Gespräch mit Blériots Frau und den
Flieger in der Luft (vgl. Abb. 3). Dramatische, sich
schnell bewegende und verändernde Szenen wie etwa
der Aufstieg und der Flug des Aeroplans, der nur aus
größerer Entfernung abzulichten ist, stellen nach wie
vor eine Herausforderung für die Pressefotografen
dar, die in diesen Jahren noch mit schweren Platten-
Abb. 2 „Blériots Flug vor dem
Kaiser“. Die Zeichnung zeigt
Franz Joseph am 23.
Oktober
1909 am Rande des Flugfeldes
auf der Simmeringer Haide im
Gespräch mit Blériots Frau. Im
Hintergrund ist
Louis Blériot
in der
Luft zu sehen. Wiener
Bilder, 27.
Oktober 1909, Titel-
seite.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Subtitle
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Author
- Anton Holzer
- Publisher
- Primus Verlag
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Size
- 23.0 x 29.0 cm
- Pages
- 498
- Keywords
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Category
- Medien
Table of contents
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang