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142 Kampf um die Straße · Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik
ist ein feierlicher Empfang beim Bundespräsidenten
geplant. Am Nachmittag steht die „Huldigung der
Stände“ in Form eines großen Festzugs in Wien auf
dem Programm. Geordnet nach ständischen Grup-
pen (Bauern, Gewerbe, Arbeiter usw.) und vielfach in
Tracht marschieren die Teilnehmer auf den Straßen
Wiens. Jeder Stand legt eine Pergamentrolle mit einer
Huldigungsadresse in die Hände des Wiener Bürger-
meisters Richard Schmitz, der 1934 von Dollfuß ein-
gesetzt worden war. Geplant hat diese „ständestaat-
liche“ Masseninszenierung, an der 17 600 Menschen
teilnehmen, der Architekt Clemens Holzmeister, einer
der wichtigsten kulturpolitischen Repräsentanten des
„Ständestaates“. Am Abend wird das politische Ge-
samtkunstwerk mit einem Volksfest im Arkadenhof
des Rathauses, das nun fest in der Hand der Regie-
rung ist, abgeschlossen.
Der Bruch mit der Vergangenheit ist vollzogen. Die
Massenpolitik des Austrofaschismus setzt sich dezi-
diert von der politischen Kultur der 1920er Jahre ab.
Nichts soll mehr an die „wilden“ politischen Kundge-
bungen der vergangenen Jahre erinnern. Jeder Schritt
ist sorgsam gelenkt, jede Rede nimmt Bezug auf das
größere Ganze, den neuen „Ständestaat“. Die Straße ist
nun „frei“, das heißt fest in der Hand der Regierung.
Jede oppositionelle Äußerung wird streng geahndet.
Es gibt nun wieder politische Gefangene (Kommunis-
ten, Sozialdemokraten, Nationalsozialisten), die weit
außerhalb der Stadt, in den „Anhaltelagern“ Kaiser-
steinbruch bzw. Wöllersdorf festgehalten werden. Einen Höhepunkt erreichen die austrofaschisti-
schen Masseninszenierungen am 18. Oktober 1936,
als die Vaterländische Front, die Einheitspartei des
„Ständestaates“, in Wien einen öffentlichkeitswirk-
samen „Appell“ veranstaltet (Abb. 13). Insgesamt
350 000 Menschen nehmen an der Großveranstaltung
auf dem ehemaligen k. u. k. Exerzierplatz Schmelz im
15. Wiener Gemeindebezirk teil. Die Logistik im Hin-
tergrund der Kundgebung ist gewaltig. Im Abstand
von fünf Minuten kommen Sonderzüge aus ganz Ös-
terreich an, um die Teilnehmer der Kundgebung nach
Wien zu bringen. Auf der Ehren- und Rednertribüne,
einer eigens errichteten monumentalen Konstruk-
tion, über der das Symbol des „Ständestaates“, das
sogenannte „Kruckenkreuz“, angebracht ist, ist die
gesamte Regierung versammelt.11 Eine Feldmesse, die
von Erzbischof Theodor Innitzer, einem begeisterten
Anhänger des Austrofaschismus, zelebriert wird, er-
öffnet die Kundgebung. „Um 11 Uhr traf Dr. Schusch-
nigg unter den Klängen der Bundeshymne und von
brausenden Hochrufen (…) auf dem Versammlungs-
platz ein“, so schreibt Das interessante Blatt, dessen
Berichterstattung ganz auf der Linie der Regierung
liegt.12 „Nach verschiedenen kurzen Reden hörte
die Menge die ergriffene Stimme des Gründers der
V. F. (Vaterländischen Front, A. H.), des verstorbenen
Kanzlers Dr. Dollfuß. Das Lied vom Guten Kameraden
ertönte und dann ergriff Dr. Schuschnigg das Wort
zu seiner großangelegten Rede, die eine Symphonie
des Vaterlandes aufrollte. Er nannte die drei Sätze
Abb. 12 „Kinderhuldigung“
am 1.
Mai 1934. 50
000 Kinder,
die sich nach dem Willen der
Regierung mit ihren Angehö-
rigen im Wiener Praterstadion
versammeln, feiern die neue
diktatorische Verfassung des
„Ständestaates“,
die an diesem
Tag verkündet wird.
Das inte-
ressante Blatt, 10.
Mai 1934,
S.
2. Foto: Lothar Rübelt.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Subtitle
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Author
- Anton Holzer
- Publisher
- Primus Verlag
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Size
- 23.0 x 29.0 cm
- Pages
- 498
- Keywords
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Category
- Medien
Table of contents
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang