Page - 158 - in Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. - Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
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158 Im Schatten der Konzerne · Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit
Menschenverstandes“ einzusetzen.62 Das hindert sie
freilich nicht, ab 1933/34 den Kurs der austrofaschis-
tischen Diktatur vollinhaltlich zu unterstützen.
Kurzlebige Experimente
Der Kuckuck und der Welt-Guck sind die wich-
tigsten, aber nicht die einzigen Neugründungen il-
lustrierter Zeitungen um 1930. Mehrere Verleger
reagieren auf den Mitte der 1920er Jahre einsetzen-
den Boom der illustrierten Presse und versuchen
neue Zeitungen auf dem Markt zu platzieren. Zwar
geht der Großteil der Zeitungsneugründungen von
Wien aus. Dennoch ist ein gewisser publizistischer
Aufschwung auch in kleineren Städten zu spüren.
1936 wird etwa in Salzburg die Salzburger Illustrierte
gegründet, die freilich ein kurzlebiges Experiment
bleibt. Ein ähnliches Schicksal erleiden, aus ganz
unterschiedlichen Gründen, auch andere neu gegrün-
dete Zeitungen und Zeitschriften.
Anfang Juni 1930 erscheint die erste Nummer der
Wiener Illustrierten.63 Hinter dem Zeitungsprojekt
stehen die Brüder Paul und Ernst Klebinder. Paul
Klebinder fungiert als Herausgeber, Eigentümer und
Verleger in einer Person, Ernst Klebinder ist Chef-
redakteur des Blattes. Die Redaktion ist in der Berg-
gasse 31, Wien 9, untergebracht, gedruckt wird nicht
weit entfernt, in der Zeitungsdruckerei der Vernay
AG, in der Canisiusgasse 6 – 10. Es ist der Zeitung
von Anfang an anzusehen, dass sie von keinem gro-
ßen Konzern hergestellt wird. Der Umfang ist mit
20 Seiten eher bescheiden, Aufmachung und Druck
sind es ebenso. Auf Kupfertiefdruck wird zunächst
verzichtet. Die Titelseite ist zwar halbwegs modern
gestaltet, also mit großformatigem Foto und klarem,
einfachen Schriftzug. Aber im Innenteil kommt die
Wiener Illustrierte bei Weitem nicht an Blätter wie den
Kuckuck oder den Welt-Guck heran. Das wirtschaftli-
che Konzept des Blattes geht nicht auf. Denn schon
nach wenigen Monaten wird die Zeitung verkauft.
Neuer Eigentümer ist die Astra-Verlags-Ges.m.b.H.,
gedruckt wird nun bei W. Hamburger, neuer Chefre-
dakteur ist Karl Trebitsch, die Redaktion ist weiterhin
in der Berggasse untergebracht. Kurzfristig wird auf
Kupfertiefdruck umgestellt. Aber auch dieser Neuan- lauf verleiht der Zeitung keinen richtigen Schwung.
Ende April 1931, weniger als ein Jahr nach der Grün-
dung, wird die Wiener Illustrierte eingestellt.
Die Wochenzeitung Jedermann, die im Herbst 1932
auf den Markt kommt, hat zunächst bessere Karten
als die Wiener Illustrierte. Hinter der Neugründung
verbirgt sich als Eigentümer und Verleger die L. Gold-
schmidt & Co. Kommanditgesellschaft. Die Redaktion
ist, ebenso wie der Verlagssitz, in der Elisabethstraße
20, Wien 1, untergebracht. Gedruckt wird die maxi-
mal 20 Seiten starke Zeitung von der Universitäts-
buchdruckerei Rudolf Hanel. Als verantwortlicher
Redakteur ist Raimund Reiter genannt.
Im Untertitel heißt das Blatt Sonntagszeitung für
alle. Die Zeitung versteht sich als populäre Illustrier-
te, die sich an ein breites Publikum wendet. Inhaltlich
verfolgt sie einen linksliberalen, dezidiert pazifisti-
schen Kurs.64 Eine Reihe namhafter Autoren schreibt
für das Blatt, u. a. Alfred Polgar und Arnold Höllrie-
gel. Der Jedermann ist grafisch besser gestaltet als
die Wiener Illustrierte. Das Titelblatt setzt auf gute,
ausdrucksstarke Fotos (Abb. 12), der Schriftzug des
Titels ist einfach und klar gestaltet. Der Innenteil ist
hingegen konventioneller aufgemacht. Es überwiegt
der vierspaltige Text, der mit zahlreichen Fotos illus-
triert ist. Immer wieder wird das Spaltenraster durch-
brochen, um für Bildseiten oder eingerückte Fotos
Platz zu machen. Gelegentlich werden auch kürzere
ein- bis zweiseitige Fotoreportagen gedruckt. Die Je-
dermann-Redaktion hat ein Sensorium für moderne
und aktuelle Strömungen der Fotografie. Sie veran-
staltet Fotowettbewerbe für Leser und bringt – neben
konventionellen Landschaftsbildern – auch Aufnah-
men, die Elemente des Neuen Sehens und der Neuen
Sachlichkeit aufgreifen.65
Einer der wichtigsten Fotografen des Jedermann ist
Hans Casparius, der über Vermittlung den Journalis-
ten Arnold Höllriegel nach Wien und zur Zeitung ge-
kommen ist.66 Geboren 1900 in Berlin, macht er sich
zunächst einen Namen als Filmfotograf. Nach 1930
unternimmt er, zusammen mit Höllriegel, immer
wieder lange Reisen. Die mitgebrachten Bilder veröf-
fentlicht er in der deutschen und österreichischen il-
lustrierten Presse bzw. in Buchform.67 Daneben arbei-
tet er als Reportagefotograf. Nach der Gründung des
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Subtitle
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Author
- Anton Holzer
- Publisher
- Primus Verlag
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Size
- 23.0 x 29.0 cm
- Pages
- 498
- Keywords
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Category
- Medien
Table of contents
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang