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225Steyr,
die sterbende Stadt
auch die verzweifelten Versuche der Stadtverwal-
tung, mit leeren öffentlichen Kassen gegen die Not
und Verelendung der Bevölkerung vorzugehen. Die
Bilder sind tableauartig angeordnet, nummeriert und
am unteren Bildrand mit kurzen Bildtexten versehen.
Im nebenstehenden Text heißt es: „Als in der
Nacht vom 29. zum 30. Dezember vergangenen Jahres
der Gemeinderat der Stadt Steyr zu einer Sitzung zu-
sammentrat und Bürgermeister Sichelrader den An-
trag auf eine Stillegung jeglicher Gemeindetätigkeit
stellte, war das mit anderen Worten die vollständige
Bankrotterklärung einer einst blühenden Industrie-
gemeinde, auf der nun die Krise der österreichischen
wie der gesamten Weltwirtschaft mit kaum geahnter
Schwere lastet. Nicht weniger als 34 Deputationen
wurden in den letzten Jahren an die Zentralstellen in
Linz und Wien entsandt, um auf die fürchterliche Not-
lage, die durch die Massenarbeitslosigkeit infolge der
Drosselung der Steyr-Werke und der vollständigen
Stillegung der Kautschukfabrik in Garsten über die
Bewohnerschaft hereingebrochen ist, aufmerksam zu
machen. Das Gesamterfordernis des Gemeindehaus-
halts beträgt 2 444 400 Schilling, dem aber nur eine
Bedeckung von 1 486 500 gegenübersteht, so daß eine
Summe von 957 000 Schilling ungedeckt erscheint.
Dabei wurden keine Ausgaben für Straßen, Woh-
nungen, Bäder, öffentliche Anlagen, Ausgestaltung
der Schule und andere notwendige und dringende
Kulturbedürfnisse eingesetzt. Man begreift aber so-
fort, daß dies so sein muß, denn die Stadt mit 20 000
Einwohnern hat 11 750 Befürsorgte, die gezwungen
sind, die öffentliche Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Die Unterstützung beträgt maximal 42 Groschen täg-
lich, ist es ein Wunder, wenn 90 Prozent aller Kin-
der unterernährt sind, wenn die Tuberkulose Opfer
um Opfer fordert. Nicht weniger fürchterlich ist das
Gespenst der Wohnungsnot, das eine Unzahl von Fa-
milien bedroht. Alle irgend verfügbaren Räume, wie
Baracken, das Gemeindelazarett und das sogenannte
‚Brüderhaus‘ wurden bereits zur Linderung herange-
zogen – und doch drängen sich die Menschen noch
immer zusammen, zehn und zwölf in einem Raum.
Angesichts dieser entsetzlichen Tatsachen nahm die
Gemeinde nochmals eine Reduktion aller Ausgaben
vor, alle Bezüge wurden um zwanzig Prozent gekürzt, sollte das auch noch nicht helfen, wäre mit einer
Sperrung der Schulen, Einstellung der Beheizung und
Beleuchtung usw. zu rechnen. Wie ernst und dring-
lich die ganze Situation ist, geht am sprechendsten
daraus hervor, daß den Gemeindeangestellten nur ein
kleiner Teil des Januar-Gehaltes ausgezahlt werden
konnte und man nicht weiß, von woher den Rest neh-
men. Steyr – eine sterbende Stadt, ein fürchterliches Abb.
24 Fortsetzung der Foto-
reportage von Lothar Rübelt
über
Steyr. Das interessante
Blatt, 7.
Januar 1932, S.
4.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Subtitle
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Author
- Anton Holzer
- Publisher
- Primus Verlag
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Size
- 23.0 x 29.0 cm
- Pages
- 498
- Keywords
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Category
- Medien
Table of contents
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang