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266 Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls
ist eine Montage, die sich über die Realität deutlich
hinwegsetzt. Entscheidend ist aber nicht, ob es diesen
Arzt und seine erotischen Wiener Träume wirklich
gibt (natürlich gibt es ihn nicht), sondern dass die
Szene eine in Österreich real existierende Amerika-
fantasie aufgreift, adaptiert und zuspitzt.
Anfang der 1930er Jahre, als in Österreich die
Wirtschaftskrise auf ihrem Höhepunkt angelangt
und die Arbeitslosigkeit extrem hoch ist, wird, nicht
ganz zufällig, der berufliche Erfolg mit dem Arzt as-
soziiert und in die amerikanische Ferne verlegt. Der
erfolgreiche amerikanische Mann nimmt sich, was er
will. Schon in seiner Studienzeit, so die Botschaft, sind
ihm die österreichischen Frauen zu Füßen gelegen.
„Der Amerikaner“ tritt hier in der Rolle des begehr-
ten Sunny-Boy auf. Die Amerikafaszination begegnet
in diesem Fall also im Gewand des erotisch-sexuel-
len Begehrens. Und dieses ist in dieser Bilderzählung
wechselseitig verschränkt. Nicht nur der amerika-
nische Arzt schweift in Gedanken zurück zum alten
Kontinent, zu seinen verflossenen Wiener Geliebten.
Auch die Frauen, die hier stellvertretend für Öster-
reich stehen, blicken sehnsüchtig in die Ferne, nach
Amerika – und sie wissen zugleich, dass ihr sinnliches
Werben auf Dauer umsonst sein wird. Aus österrei-
chischer Sicht thematisiert das Bild damit auch ein
kollektives Minderwertigkeitsgefühl, das das Verhält-
nis zum großen Land der unbegrenzten Möglichkeiten
prägt.
Die anzügliche Bilderzählung in der Zeitschrift Die
Muskete spült untergründige kollektive Fantasien an
die Oberfläche. Sie bildet freilich nur eine Facette im
vielschichtigen Mosaik der österreichischen Amerika-
begeisterung der Zwischenkriegszeit. Es lohnt sich,
diese Projektionen etwas genauer unter die Lupe zu
nehmen, denn sie haben sich als haltbar erwiesen:
Den amerikanischen Traum gibt es, in aktualisier-
ter und veränderter Form, bis heute. Und auch heute
geht mit dem Traumbild das Schattenbild des Anti-
amerikanismus einher.
Faszination
Hollywood
Bis zum Ersten Weltkrieg ist Amerika aus öster-
reichischer Sicht weit entfernt. Man hat zwar von den ersten spektakulären Hochhausbauten in New York
gehört, aber wenige haben diese mit eigenen Augen
gesehen. Amerika ist das unbekannte Wunderland,
ein begehrtes Auswanderungsziel, in das um die Jahr-
hundertwende Hunderttausende verarmte Menschen
v. a. aus dem Osten der Monarchie gereist waren, um
ein besseres Leben aufzubauen. Nach dem Krieg
ändert sich die Situation sehr schnell. Amerika, vor
Kurzem noch übermächtiger Kriegsgegner, ist den
Österreichern mit einem Schlag ganz nahe gerückt:
1919 beginnt die amerikanische Kinderhilfsaktion
ihre Arbeit in Österreich. Sie bietet über 200 000 vor
allem Wiener Kindern kostenlose Ausspeisungen
an. 1922 eröffnet sie die Kinderheilanstalt am Tivoli
in Wien-Meidling.4 Bald danach aber ziehen sich die
amerikanischen Spender wieder zurück. Das öffent-
liche Sozialfürsorgenetz funktioniert inzwischen
wieder einigermaßen, der junge Staat ist dabei, sich
wirtschaftlich zu erholen.
Mitte der 1920er Jahre ist das Bild Amerikas als
großzügiger Spender schon wieder verblasst. Nun ist
man an ganz anderen Dingen interessiert, an ameri-
kanischen Shows, an Musik und vor allem an Filmen.
Besonders beliebt sind die großen Hollywoodproduk-
tionen, die in diesen Jahren unaufhaltsam Einzug
in die Wiener Kinos halten. Die Marken Paramount,
Fox oder Metro-Goldwyn-Mayer garantierten hand-
werklich perfekt gemachte, flotte Unterhaltung. Die
amerikanischen Filme bringen aber nicht nur ihre
Stoffe und Themen nach Österreich, sondern sind
zugleich Vehikel für den Import eines umfassenden
amerikanischen Lebensgefühls. Nach und nach ent-
stehen – vor allem in Wien – Großkinos nach ameri-
kanischem Vorbild.
Im Herbst 1929 wird nach umfangreichen, sieben
Monate dauernden Umbau- und Modernisierungs-
arbeiten im ehemaligen Wiener Apollo-Theater in
der Gumpendorfer-Straße das Apollo-Kino eröffnet
(Abb.
5). Ziel des Umbaus nach Plänen von Carl
Witzmann ist es, neueste amerikanische Filme vor
großem Publikum zeigen zu können. An die Stelle
des traditionellen Varietéetablissements tritt daher
ein Großkino, das Platz für 1500 Besucher bietet. Wie
sehr das neue Apollo-Kino an einem Schnittpunkt
moderner Filmkultur steht, zeigt sich daran, dass
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Subtitle
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Author
- Anton Holzer
- Publisher
- Primus Verlag
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Size
- 23.0 x 29.0 cm
- Pages
- 498
- Keywords
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Category
- Medien
Table of contents
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang