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268 Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls
ner gebeutelten Nachkriegsgesellschaft. Der Blick
nach Amerika, oder was man dafür hält, soll Krieg
und Wirtschaftskrise, Hunger und Entbehrungen ver-
gessen machen. Amerika steht für Optimismus und
Überfluss – wenn auch nur einen Kino- oder Revue-
abend lang. Nicht immer freilich kommt das, was als
typisch „amerikanisch“ angepriesen wird, von weit
her. Gelegentlich ist das „Amerikanische“ bloß eine
modische Lasur, ein Spiel mit dem begehrten Etikett
des Fremden und Exotischen. Als im Herbst 1926
eine Formation der Tiller Girls im Wiener Stadtthea-
ter auftritt, huldigt man zweifellos dem amerikani-
schen Zeitgeist (Abb.
6). Aber die im Gleichschritt
tanzenden jungen Frauen kommen nicht aus den USA,
sondern sind echte Wienerinnen. Das Publikum stört
das ganz und gar nicht. Die Revue, sie stammt von Fritz
Grünbaum und Karl Farkas (Musik: Ralph Benatzky),
heißt „Wien lacht wieder“. Die üppig ausgestattete
Show trifft den Geschmack der Zuschauer, Hunderte
Male wird sie in den folgenden Monaten gespielt. Wenn es ums „Amerikanische“ geht, schielt man
also nicht ausschließlich nach Übersee, sondern bei-
spielsweise auch nach Berlin – die berühmten Tiller
Girls des Berliner Admiralspalastes tanzen auch in
Wien – oder nach Paris, der Wahlheimat von Josephine
Baker. Am 1. März 1928 tritt diese nach heftigen Pro-
testen erstmals in Wien auf. Josephine Baker ist eine
Kunstfigur, die nicht zufällig in Europa populär wird.
In ihr entdecken die Zeitgenossen eine Art ergänzen-
des Gegenbild zur Welt der Hochhäuser und Wolken-
kratzer. Sie steht für wilde Erotik, schwarze Exotik
und enthemmte Musik. Josephine Baker schlägt
in den Augen des Publikums die Brücke zwischen
scheinbaren Gegensätzen: der modernen Großstadt
und dem Dschungel.
Während die Tiller Girls für die maschinenhafte
Moderne des weißen Amerika stehen, steht der Jazz
für das dunkle, untergründige Amerika. Er ist nicht
nur eine Musik, sondern ein Lebensgefühl. In Ernst
Kreneks Jazz-Oper „Jonny spielt auf“, die 1927 Pre-
Abb.
6 Tiller Girls
in der Revue
„Wien lacht wieder“ von Fritz
Grünbaum und Karl Farkas, Wien
1926.
Wiener Bilder,
10.
Oktober
1926, S.
10. Foto: Atelier
Willinger.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Subtitle
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Author
- Anton Holzer
- Publisher
- Primus Verlag
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Size
- 23.0 x 29.0 cm
- Pages
- 498
- Keywords
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Category
- Medien
Table of contents
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang