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284 Bubikopf und Zigarette · Bilder der „Neuen Frau“
Frauen und Athletik, das schienen zwei einander
so entgegengesetzte Begriffe, daß ihre Verquickung
nur Ausgeburt einer verschrobenen Phantasie sein
konnte. Aber inzwischen haben sich die Aussichten
geändert, die Schönheitsideale sind andere geworden,
ganz andere! Der Typus ‚Puppe‘ kann mit dem Typus
‚Sportlerin‘ nicht mehr konkurrieren, die braunge- brannte Schwimmerin, die sehnige Athletin hat frag-
los das Terrain behauptet. Die heutige Zeit braucht
sich dieses Schönheitsideals nicht zu schämen. Man
sehe sich die Mädeln auf unseren Sportplätzen ein-
mal an, wie sie den Diskus werfen, springen oder
laufen. Sie sind schön in den Linien ihrer Bewegung,
in der maßvollen Kraft und in ihrer Lebensfreude.
Sie sind schön, auch wenn sie im Wettlauf ein biß-
chen keuchen, wenn der Bubikopf derangiert oder
gar die Laufschuhe ein bißchen ‚verhatschelt‘ sind.
Athletisch und graziös sind heute keine Gegensätze
mehr. Sie waren es.“11
Wenige Wochen später kommt dasselbe Blatt un-
ter dem Titel „Alles steht Kopf“ auf das Thema Frau-
ensport zurück. Dem Artikel beigefügt ist u. a. ein
Foto, das die deutsche Schauspielerin Ossi Oswalda
bei ihrer „Morgenarbeit“ zeigt – Gymnastikübungen
im Handstand (Abb.
7). Auf den ersten Blick, so der
redaktionelle Beitrag zum Bild, scheint die Zeit „aus
den Fugen geraten“.12 Dann aber wird den „kopfste-
henden“ Sportlerinnen auf der ganzen Linie Recht
gegeben: „Zweifellos stehen die jungen Damen von
heute mit ihrem Kopf auf dem richtigen Fleck und ge-
hen auf ihren zarten Händen einer Zeit entgegen, die
gesündere Mütter, fröhlichere Kinder und kraftvollere
Väter besitzen wird, als jene Zeit, die man fälschlich
die ‚gute alte‘ nennt.“13
Es ist kein Zufall, dass der modische Kurzhaar-
schnitt, der sich seit Beginn des Jahrzehnts zuerst
über das Kino, dann über die Mode verbreitet hat,
gegen Ende der 1920er Jahre auch im proletarischen
Milieu ankommt. Hier ist es vor allem der Sport, der
als Vehikel für die Popularisierung des neuen Frau-
enbildes dient. Die moderne proletarische Frau ist,
anders als die bürgerliche Femme fatale, keine ver-
führerische Schönheit, sondern – zumindest auf den
Propagandabildern der 1920er und frühen 1930er
Jahre – eine tatkräftige, zupackende Frau. In ihrem
androgynen Look nähert sie sich nicht so sehr der
entrückten Bühnendiva an, sondern dem proletari-
schen Mann. Sie ist jung, braun gebrannt, kräftig und
entschlossen – eine politisch selbstbewusste Athletin
also. Ihre Frisur hat sich vom städtisch-mondänen Bu-
bikopf ein Stück weit in Richtung männlich kurzer
Haartracht verschoben.
Abb.8 „Ihre Zähne pflegt sie
nur mit Pebeco“. Sportliches
Schönheitsideal
in der Werbung
der 1920er Jahre. Das inter-
essante Blatt, 15.
September
1927, S.
15.
Abb.
7 „Alles steht Kopf“.
Die deutsche Filmschauspie-
lerin Ossi Oswalda bei der
Morgengymnastik. Illustriertes
Sportblatt, 27.
November 1926,
S.
12.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Subtitle
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Author
- Anton Holzer
- Publisher
- Primus Verlag
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Size
- 23.0 x 29.0 cm
- Pages
- 498
- Keywords
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Category
- Medien
Table of contents
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang