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287Tanzen
ohne Korsett
Tänzerin – zunächst abseits der etablierten Spielorte.
Es ist wohl kein Zufall, dass die jungen Tänzerinnen
ihre freien Tänze in diesen Jahren auf den Wiener
Varietébühnen präsentieren. Grete Wiesenthal etwa
tritt vor dem Ersten Weltkrieg mehrmals im bereits
genannten Apollo-Theater auf.3 Aber auch die Klein-
kunstbühnen und später die Konzertsäle werden zu
Orten des freien Tanzes. Im Januar 1908 etwa treten
die Schwestern Wiesenthal im Theater und Kabarett
Fledermaus auf, das 1907 von der Wiener Werkstätte
eröffnet worden war. Auch das Raimund-Theater und
die Residenzbühne (Abb.
3), wo die Schwestern Wie-
senthal ein paar Monate später gastieren, sind keine
noblen Häuser.
steht sie auf einem Bein und dreht sich im tollen
Wirbel. Bums! – da ist sie schon in der Coulissenthür
verschwunden, reckt übermüthig ihr Füßchen her-
aus und winkt damit. So dankt sie für den Applaus.“1
Die beiden Fotos, die die junge Dame bei einer ihrer
spektakulären Tanzeinlagen zeigt, ist im Budapester
Atelier Strelitzky aufgenommen worden. Akrobatisch
streckt sie ihr Bein in die Senkrechte. Die körperli-
chen Verrenkungen, die zu dieser „exzentrischen“
Pose führen, sind unter dem langen Rüschenkleid
nur andeutungsweise zu erahnen.
Tanzabende wie diese finden um die Jahrhun-
dertwende in Wien regelmäßig statt. Häufig sind die
Stars auf der Bühne Ausländerinnen. Sie vollführen
ihre Darbietungen nicht in den „ehrbaren“ Theatern
des Hochkulturbetriebs, sondern in populären Ver-
gnügungsetablissements der Stadt, etwa im Colosse-
um oder Gschwandner, im Metropol-Theater, Apol-
lo-Theater oder Revuetheater Ronacher. Oft finden
die Shows, in denen sich Musik, Varieté und Tanz
mischen, auch im Prater statt, etwa im Zirkus Busch.
Die Tanzauftritte gelten als Teil der leichten Muse,
den Protagonistinnen eilt der Ruf der Verruchtheit
voraus, die Vorstellungen sind stets ausverkauft und
das hauptsächlich männliche Publikum drängt sich
an den Kassen. Im Bühnenraum der populären Eta-
blissements gibt es keine Sitzreihen wie im altehr-
würdigen Theater. Während der Vorstellungen darf
gegessen, getrunken und geraucht werden. Jeden
Abend gibt es ein abwechslungsreiches Programm:
leichte Konzerte, Opern, Operetten und Revuen. Stars
und Sternchen treten auf, Artisten und Tänzerinnen,
Zauberer, Clowns und Wunderkünstler, Musiker und
Pantomimen.
Tanzen ohne Korsett
Als wenige Jahre später, im Frühjahr 1909, die
Schwestern Grete, Elsa und Berta Wiesenthal mit
ihrem Tanzprogramm im Wiener Raimund-Theater
auftreten, zeichnen sich erste Neuerungen in der
Tanzszene ab.2 Grete Wiesenthal ist zwei Jahre zuvor,
1907, aus dem Wiener Hofopernballett ausgetreten.
Der Tanz, der dort vorherrscht, erscheint ihr zu starr
und konventionell. Sie beginnt eine Karriere als freie Abb.
3 Die Tänzerin
Elsa
Wiesenthal in einer freien Im-
provisation zum Walzer „Dorf-
schwalben“ von
Josef Strauss.
Sie präsentiert diesen Tanz im
Oktober 1911 in einer Matinee
der
Wiener
Residenzbühne.
Das
interessante Blatt, 19.
Oktober
1911, S.
19. Foto: Hugo
Erfurth.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Subtitle
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Author
- Anton Holzer
- Publisher
- Primus Verlag
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Size
- 23.0 x 29.0 cm
- Pages
- 498
- Keywords
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Category
- Medien
Table of contents
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang