Page - 345 - in Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. - Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
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345Flügelkämpfe
garter Schau verantwortet, will ganz bewusst einen
Kontrapunkt zu den traditionellen Sichtweisen des
fotografischen Bildes setzen. Er wendet sich sowohl
gegen die erstarrte Berufsfotografie als auch gegen
die Kunstfotografie, die im Fahrwasser der Malerei
weichgezeichnete, entrückte Landschaften und Por-
träts produziert. Stattdessen setzt man auf die unver-
stellte Wiedergabe der Wirklichkeit, auf harte Kont-
raste, ungewöhnliche Perspektiven und Ausschnitte.
Das Spektrum der Fotografie wird programmatisch
erweitert, fast alles ist nun bildwürdig: das kleinste
Detail des Alltags ebenso wie eine überdimensiona-
le Industrielandschaft. Zeitungsfotos werden ebenso
ausgestellt wie Mikroaufnahmen.
Mit der Ausstellung „Film und Foto“ setzen die
Vertreter der Avantgardefotografie ein starkes Le-
benszeichen. Auch der Wiener Veranstalter, der
Österreichische Werkbund, sieht die Schau als deut-
liches kulturpolitisches Signal für die moderne Foto-
grafie. Nicht zufällig wählt man als Ausstellungsort
ein Museum, das dem Gewerbe und der angewand-
ten Kunst gewidmet ist und nicht der „puren“ Kunst.
Die Schau findet zwischen dem 20. Februar und dem
31. März 1930 in den Räumen des Österreichischen
Museums für Kunst und Industrie an der Ringstraße
(heute: Museum für angewandte Kunst, MAK) statt.
Neben den Stars, die bereits in Deutschland zu se-
hen waren (El Lissitzky, Alexander Rodtschenko, John
Heartfield, Hannah Höch, Helmar Lerski, Germaine
Krull, László Moholy-Nagy, André Kertesz, Man Ray,
Aenne Biermann, Charles Sheeler, Edward Weston,
Sasha Stone, Piet Zwart und vielen anderen) wird in
Österreich auch eine zusätzliche Abteilung mit 13
einheimischen Fotografen gezeigt.2
Flügelkämpfe
Neben einigen wenigen Vertretern des „Neuen Se-
hens“ bzw. der „Neuen Sachlichkeit“ (etwa Richard
Träger, Willy Riethof, Hans Cechal und Franz Mayer)
ist in der österreichischen Abteilung eine ganze Reihe
von Arbeiten zu sehen, die wohl am besten mit dem
Begriff der „gemäßigten Moderne“ zu umschreiben
sind (Trude Fleischmann, Trude Geiringer/Dora Ho-
rovitz, Grete Kolliner, Hertha Müller, Ilona Kiss, Otto Skall u. a.). Aber auch traditionelle kunstfotografische
Studien (etwa von Maximilian Karnitschnigg) werden
gezeigt.3 Der Großteil der ausgestellten österreichi-
schen Lichtbildner sind professionelle Atelierfoto-
grafen, praktisch alle stammen aus Wien oder leben
(zeitweise) hier. Die Amateurfotografen (u. a. Paul
Freiberger, Willy Riethof, Hans Cechal und Richard
Träger) sind in der Minderheit, die Pressefotografen,
die in Stuttgart breit vertreten gewesen waren, sind
kaum berücksichtigt (Otto Skall etwa ist mit nur ei-
nem Foto vertreten).
Die Ausstellung „Film und Foto“ markiert in der
Geschichte des österreichischen Werkbundes einen
Neuanfang – nach langen Jahren der Krise. In den
1920er Jahren hatte der Verein eine Phase der Lethar-
gie und der Spaltungen erlebt.4 Im November 1928
werden die unterschiedlichen Fraktionen vereint
und der Verein wiederbelebt.5 In den folgenden Jah-
ren entwickelt der Verein ein reges Ausstellungspro-
gramm: 1929 wird in der Hofburg die Schau „Neues
Bauen“ gezeigt, 1930 findet im Museum für Kunst
und Industrie neben der FiFo eine weitere Werk-
bundausstellung statt, um die Jahreswende 1931/32
ist im selben Museum die Ausstellung „Der gute bil-
lige Gegenstand“ zu sehen. 1932 findet diese kurze
Blütezeit mit dem Projekt „Werkbundsiedlung Wien
1932“ ihren Höhepunkt. Danach kommt es neuerlich
zu Konflikten und zur Spaltung. Eine Gruppe um Pe-
ter Behrens und Clemens Holzmeister gründet Ende
1933 den „Neuen Werkbund Österreichs“, der die
Ausrichtung des bestehenden Vereins auf die liberale
Moderne ablehnt und eine Verbindung zwischen Tra-
dition, Patriotismus und Moderne anstrebt. Die neue
Gruppierung sucht die Nähe zur christlichsozialen,
ab 1933/34 diktatorisch agierenden Regierung. 1934
wird der „alte“ Werkbund aufgelöst. Aber auch die
Aktivitäten der politisch willfährigen Neugründung
erlahmen in den folgenden Jahren.6
Ähnliche ideologische und ästhetische Flügel-
kämpfe gibt es um 1930 auch in einigen österreichi-
schen Fotovereinen. Die 1929 gegründete „Vereini-
gung Photo-Secession“ beispielsweise spaltet sich ein
Jahr nach der FiFo in zwei Gruppierungen auf. Auf
der einen Seite stehen die traditionellen Kunstfoto-
grafen, die weiterhin der Pflege des Bromöldrucks an-
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Subtitle
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Author
- Anton Holzer
- Publisher
- Primus Verlag
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Size
- 23.0 x 29.0 cm
- Pages
- 498
- Keywords
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Category
- Medien
Table of contents
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang