Page - 380 - in Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. - Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
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380 Fotografisches Feuilleton · „Der Sonntag“: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie
wird beschlagnahmt. Die Bilderzeitung exerziert also
wöchentlich vor, dass es herkömmlichen Einschätzun-
gen zum Trotz, die von einer lückenlosen Mediendik-
tatur im Austrofaschismus ausgehen, zwischen 1934
und 1938 doch noch schmale Freiräume für einen
avancierten Fotojournalismus gibt. Zwar beherrscht
die Regierungspropaganda die Öffentlichkeit, aber es
gibt dennoch kleine publizistische Nischen, in denen
ein anderer Blick auf die Wirklichkeit möglich ist als
der offiziell verordnete.
Erstaunlicherweise ist die eminente Bedeu-
tung, die der Sonntag für die fortschrittliche öster-
reichische Fotoszene der 1930er Jahre hat, in der
fotohistorischen Forschung lange Zeit nicht gewürdigt
worden.2 Als nach 1933/34 die Publikationsmög-
lichkeiten für die moderne, avancierte Fotografie
zunehmend schwinden und durch Repression und
konservative Staatsideologie eingeschränkt werden,
wird der Sonntag zu einem wichtigen Forum für jene
Lichtbildner, die sich nicht mit patriotischer Gefühls-
duselei zufriedengeben. Die Zeitschrift bietet auch
Fotografen eine Plattform, die zuvor in sozialdemo-
kratischen Medien, wie etwa dem Kuckuck (1934
verboten), veröffentlicht haben. Andererseits gelingt
es der Sonntag-Redaktion, jungen, vielversprechen-
den Lichtbildnern, die bisher noch nicht oder kaum
publiziert haben, eine Öffentlichkeit zu bieten. Aber
nicht nur Fotografen, auch Autoren und Schriftsteller,
die um Abstand zum Regime bemüht sind, etwa Jura
Soyfer oder Theodor Kramer, um nur zwei Beispiele
zu nennen, finden in der Zeitschrift eine Bühne, die
ihnen eine, wenn auch prekäre, öffentliche Existenz
ermöglicht. Zahlreiche bekannte Journalisten und
Autoren veröffentlichen im Sonntag, in der Mehrzahl
gehören sie dem linken oder liberalen Lager an, wie
etwa Arnold Höllriegel, Eugenie Schwarzwald, Veza
Canetti, Johannes Urzidil, Franz Werfel oder Hilde
Spiel. Aber auch konservative Autoren wie Karl Hein-
rich Waggerl schreiben in dieser Zeitung.
Der Sonntag ist mehr als eine Illustrierte. Er ist,
mitten in der Diktatur, auch ein kultureller Treff-
punkt für liberale und linke Intellektuelle, für Anders-
denkende und Oppositionelle, die in anderen Zei-
tungen und Zeitschriften nicht mehr veröffentlichen
können bzw. wollen. Und zugleich ist er ein wichtiges Sammelbecken für eine junge, aufgeschlossene Fo-
toszene, die Publikationsmöglichkeiten außerhalb der
angepassten, regierungsnahen illustrierten Presse
sucht. Der Sonntag ist also, mitten im Austrofaschis-
mus, ein liberaler Lichtblick in einer immer konser-
vativer werdenden Presselandschaft.
Die Vorgeschichte
Warum kann diese Zeitschrift überhaupt erschei-
nen? Um diese Frage beantworten zu können, ist
ein Blick auf die Eigentümerstruktur und die Ent-
stehungsgeschichte der Zeitschrift notwendig. Der
Sonntag erscheint zwischen April 1934 und März
1938 als sonntägliche Beilage der Tageszeitung Der
Wiener Tag. Im Grunde also ist es dieses Mutterblatt,
das inmitten der Diktatur das publizistische Wagnis
einer halbwegs unabhängigen illustrierten Wochen-
endausgabe eingeht. Werfen wir daher zunächst ei-
nen kurzen Blick auf die Geschichte und Herkunft
dieses Blattes.
Ende November 1922 wird mit dem Geld des Bör-
senspekulanten Siegmund Bosel und dem Know-how
des Wiener Journalisten Maximilian Schreier eine
neue Tageszeitung, Der Tag, gegründet. Die Zeitung
etabliert sich als bürgerlich-demokratisches, links-
liberales Blatt, das u. a. bekannte Autoren, etwa Ro-
bert Musil, Alfred Polgar, Karl Tschuppik und Walther
Rode, als Mitarbeiter gewinnen kann. Die Auflage
liegt 1924 bei 50 000 bis 60 000 und geht bis 1933
auf etwas unter 50 000 zurück.3 Als 1925 Bosels Fi-
nanz- und Firmenimperium aufgrund von Fehlspeku-
lationen zusammenbricht, übernimmt der große Dru-
ckerei- und Medienkonzern Vernay AG im folgenden
Jahr die Zeitung und führt diese bis 1938 weiter. 1930
wird sie in Der Wiener Tag umbenannt.
Die Grundausrichtung der Zeitung liegt jahrelang
in den Händen von Maximilian Schreier. Der 1877
geborene Journalist hat seine Laufbahn bereits vor
dem Ersten Weltkrieg begonnen. 1910 gründet er die
Montagszeitung Der Morgen und leitet sie als Chefre-
dakteur. 1922 übernimmt er zusätzlich die redaktio-
nelle Leitung des Tag. Beide Blätter werden Mitte der
1920er Jahre in der Medienkonzern der Vernay AG
eingegliedert. Politisch steht Schreier auf der Seite
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Subtitle
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Author
- Anton Holzer
- Publisher
- Primus Verlag
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Size
- 23.0 x 29.0 cm
- Pages
- 498
- Keywords
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Category
- Medien
Table of contents
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang