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382 Fotografisches Feuilleton · „Der Sonntag“: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie
Ein Blick hinter die Kulissen
der Redaktionsarbeit
Der Sonntag, bilanziert Hans Oplatka im März
1935 nach einem Jahr seines Erscheinens, ist der
„Versuch, das Wiener Leben mit den Mitteln der
modernen Zeitungsillustration in Bildern abzuspie-
geln; es war (in einem Jahr politischer Aufregungen,
in dem die Presse sich mancherlei Beschränkungen
fügen mußte), ein Versuch, der nicht sofort gelingen
konnte. Wir wissen, was wir wollen: wir wollen ei-
nem kultivierten Leserkreis möglichst gute, in einem
höheren Sinn stets aktuelle Bilder in sein Sonntags-
blatt legen, dazu womöglich einen interessanten und
anregenden Text. Wir möchten außer dem Heer der
Photographen die besten Zeichner zu Mitarbeitern
haben, außer den Journalisten die Dichter. Mit ih-
rer Hilfe möchten wir von Sonntag zu Sonntag, von
‚Sonntag‘ zu ‚Sonntag‘ immer mehr dem Ziele nahe
kommen: Vignetten an den Rand der Zeit zu malen,
zu schreiben. Das möchten wir. Die freundliche Sym-
pathie unserer Leser sagt uns, daß sie dieses unser
Bestreben verstehen. Wie viel uns noch zu tun übrig
bleibt, das wissen wir selber am besten. Aber es ist
noch nicht aller Sonntag Abend.“10
Anfangs produziert Oplatka die achtseitige illus-
trierte Wochenendbeilage nahezu im Alleingang. Er
setzt die Themen fest, organisiert die Bilder und re-
digiert die Texte, er verhandelt mit den Fotografen
und Zeichnern, sichtet das Material und ordnet es
zu Geschichten. Er steht am Lichttisch und zieht die
einzelnen Seiten grafisch auf. Immer wieder liefert
er auch selbst Fotoreportagen, zu denen er die Texte
schreibt. Er hat ein großes Gespür für interessante
Themen und ihre spannende fotografische und grafi-
sche Umsetzung. Von Anfang an gelingt es Oplatka,
dem Sonntag eine ganz eigene, moderne Handschrift
zu verleihen.
Da die Redaktion des Sonntag im Verlagshaus
Canisiusgasse 8 –10 im 9. Wiener Gemeindebezirk
untergebracht ist, in dem u. a. das Mutterblatt Der
Wiener Tag, aber auch illustrierte Magazine wie Die
Bühne erscheinen, kann Oplatka bei seinem Zeitungs-
projekt auf eine professionelle Infrastruktur zurück-
greifen. Er nutzt bestehende Kontakte zu Fotografen und Autoren und bedient sich gut ausgebildeter
Handwerker in der Grafik- und Druckabteilung des
Hauses. Die Vernay AG verfügt seit 1928 über eine
moderne Kupfertiefdruckanlage, die 1934 erweitert
und modernisiert wird. Der Sonntag wird von Anfang
an im Kupfertiefdruck hergestellt.
Nach gut einem Jahr erhält Oplatka Unterstützung
in der Redaktion. Ab Mitte 1935 geht ihm der junge
Zeichner Wilhelm Spira, er ist zwei Jahre jünger als
der Chefredakteur, als Bildredakteur zur Hand. Bil
Spira, so sein Künstlername, schildert in seiner Auto-
biografie Jahrzehnte später sehr anschaulich und le-
bendig, wie er zum Sonntag kam.11 Dieser Bericht ist
überaus interessant, denn er der bietet einen guten
Einblick in den Redaktionsalltag der Zeitung. Zu-
dem sind diese Erinnerungen das einzige erhaltene
schriftliche Zeugnis eines Sonntag-Redakteurs, das
über das Innenleben der Illustrierten berichtet.
Bil Spira, geb. 1913, beginnt Ende der 1920er Jahre
als Zeichner für die Presse zu arbeiten. Seine ersten
Zeichnungen – schnell und souverän hingesetzte
Skizzen von Theaterszenen und Schauspielerkari-
katuren – erscheinen 1929 im sozialdemokratischen
Kleinen Blatt.12 Er ist damals 16 Jahre alt. Später
zeichnet er auch für die Arbeiter-Zeitung, daneben stu-
diert er an der Kunstgewerbeschule in Wien (der heu-
tigen Universität für angewandte Kunst). Als 1934 die
sozialdemokratische Presse verboten wird, sieht sich
Spira nach anderen Publikations- und Einkunftsmög-
lichkeiten um. „In den Kaffeehäusern durchstöberte
ich alle aufliegenden Zeitungen und Zeitschriften, um
eine zu entdecken, in die meine Zeichnungen paßten.
Die Sonntagsbeilage des ‚Wiener Tag‘, im Kupfertief-
druckverfahren hergestellt, bestand zum größten
Teil aus Photos mit dazugehörigem Text und einigen
Zeichnungen. Sie war im Gegensatz zu den meisten
anderen journalistischen Erzeugnissen fortschritt-
lich, und ich hätte gern dort mitgemacht.“13
Da er in der Redaktion niemand kennt, bittet
Spira den Fotografen Otto Skall, mit dem er flüchtig
bekannt ist und der für den Sonntag arbeitet, eine
Mappe mit Arbeitsproben in die Redaktion zu brin-
gen. Als der erhoffte Anruf nicht kommt, ist Spira
enttäuscht. Er will die Unterlagen wieder abholen.
„Als ich beim ‚Sonntag‘ klopfte, öffnete mir ein junger
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Subtitle
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Author
- Anton Holzer
- Publisher
- Primus Verlag
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Size
- 23.0 x 29.0 cm
- Pages
- 498
- Keywords
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Category
- Medien
Table of contents
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang