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387Menschen:
Gesichter, Körper und die Welt der kleinen Leute
Berg stirbt, widmet ihm der Sonntag ein einfaches,
aber eindrückliches Titelblatt (Abb.
4). Die Seite ist
in ruhigen, klaren Schwarz-Weiß-Flächen gehalten.
Im Zentrum steht das frontal aufgenommene, knapp
beschnittene Porträt des Musikers. Daneben, leicht
über der Augenhöhe des Abgebildeten, findet sich in
einem senkrechten weißen Kasten Titel und Unterti-
tel der Zeitschrift sowie der Name des Fotografen. Das
Foto, es stammt von Otto Skall, ist, zusammen mit
dem schlichten Namenszug des Verstorbenen, in ei-
nen schwarzen Grund gesetzt und tritt so besonders
deutlich hervor, ohne monumental oder pathetisch zu
wirken.
Das Alban-Berg-Titelbild mit dem eng beschnit-
tenen Gesicht ist keine Ausnahme. Immer wieder
bringt Oplatka auf dem Umschlag Gesichter in ex-
tremer Nahaufnahme, die eine aufmerksame Betrach-
tung geradezu herausfordern. Meist sind es einfache,
oft namenlose Menschen, die hier ins Licht gerückt
werden. Auch in den Zügen völlig unbekannter Perso-
nen lässt sich, so sein Credo, eine ganze Welt entde-
cken. Regelmäßig veröffentlicht er etwa Aufnahmen
von Martin Imboden, der in seinen Porträts beson-
ders nahe an das Gesicht heranrückt. Eines dieser
Fotos wird im Juli 1936 im Sonntag veröffentlicht
(Abb.
5).22 Die junge Frau im Bild tritt uns, unter-
stützt durch die raffinierte Lichtführung von schräg
oben, geradezu plastisch entgegen. Gerade weil sie
ihren Blick gesenkt hat, können wir es wagen, sie
länger als üblich zu betrachten. Nichts lenkt von ih-
rem Gesicht ab. Der Hintergrund ist vollständig aus-
geblendet und auch das Kopftuch der Frau, das ihren
sozialen Stand und ihre Herkunft verraten könnte, ist
stark angeschnitten, sodass nicht mehr als ein abs-
traktes Muster sichtbar wird. Wir wissen nicht, ob die
Frau Städterin ist oder vom Land kommt, ob sie reich
oder arm ist. Ihr Porträt steht nicht stellvertretend
für eine soziale Schicht, vielmehr kommt darin eine,
wenn auch namenlose, Person zum Ausdruck.
Immer wieder bringt der Sonntag Bildstrecken
und Reportagen, die einen Blick auf den Alltag der
kleinen Leute werfen. Die Sonntag-Fotografen bewe-
gen sich oft am Rande der bürgerlichen Gesellschaft,
sie dokumentieren das gesellschaftliche Treiben auf
den Märkten (der Wiener Naschmarkt etwa kommt in mehreren Reportagen vor), sie schildern das Le-
ben an populären Vergnügungsstätten (Prater und
Zirkus). Und sie werfen einen Blick auf das einfache
ländliche Leben außerhalb der Großstadt Wien, in der
Regel ohne dieses als heilen Gegenentwurf zur städ-
tischen Misere zu verklären.
Regelmäßig finden wir im Sonntag Berichte und
Reportagen über das Leben und den Alltag in den
Wiener Außenbezirken und Vororten, wo Not und Abb.
5 Frau mit
Kopftuch.
Der Sonntag, 15.
September
1935, Titelseite.
Foto: Martin
Imboden.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Subtitle
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Author
- Anton Holzer
- Publisher
- Primus Verlag
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Size
- 23.0 x 29.0 cm
- Pages
- 498
- Keywords
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Category
- Medien
Table of contents
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang