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Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. - Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
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389Menschen: Gesichter, Körper und die Welt der kleinen Leute Armut zu Hause sind. Ende März 1935 etwa ver- öffentlicht der Sonntag eine Aufnahme von Felix Braun, in der das visuelle Programm der Zeitschrift kondensiert erscheint (Abb.    6). Das Foto zeigt eine Straßenszene in Lichtental, einer ärmlichen, slum- ähnlichen Vorstadtgegend im 9. Wiener Gemeinde- bezirk, die zwischen dem Franz-Josefs-Bahnhof und der Nußdorfer Straße gelegen und nicht allzu weit von der Sonntag-Redaktion entfernt ist. Als der so- zialdemokratische Journalist Max Winter ein Jahr vor dem Ersten Weltkrieg diesen Ort besucht hatte, berichtete er in der Arbeiter-Zeitung von der Armut, dem Verfall und der Not, die in diesen engen Gassen zu Hause ist. In den niederen, heruntergekommenen Vorstadthäusern finden sich, so Winter, „Gelasse“, die von den Besitzern „wohl noch als Wohnungen ausgegeben werden, die aber nichts sind als höchs- tens Schlafstellen, die auch den einfachsten Regeln der Gesundheitslehre hohnsprechen (...).“23 Bewohnt werden diese einfachen Behausungen von Leuten, die am unteren Ende der sozialen Leiter stehen, Hilfsar- beitern, Kutschern, Straßenkehrern u. Ä., Menschen also, deren Einkommen für eine Mietshauswohnung in einem Arbeiterviertel nicht ausreichen.24 Not und Elend findet Max Winter nicht nur auf den Lichtenta- ler Straßen, sondern auch im Inneren der einfachen Wohnstätten: „Die ganze Wohnung verfallen. Die einst hellblaue Mauer abgebröckelt. Heiligenbilder an den Wänden. Alles dumpf und trostlos.“25 Gut zwei Jahrzehnte später ist Lichtental immer noch eine arme, heruntergekommene Gegend. In der Straßenszene von Felix Braun ist die Not der Bewoh- ner noch deutlich sichtbar. Aber es geht dem Fotogra- fen nicht in erster Linie um Sozialkritik. Er verhält sich vielmehr als stiller Beobachter, der – wohl von einem erhöht gelegenen gegenüberliegenden Fester aus – eine kleine, alltägliche Begebenheit festhält, die scheinbar im Kontrast zum Elend der Straße steht: das Spiel eines Straßenmusikanten, dem eine Kin- derschar aufmerksam zuhört. Die faszinierende Mo- mentaufnahme lässt für einen Augenblick das triste Leben der Beteiligten in den umliegenden Straßen vergessen. In ähnlicher Weise hält sich der Sonntag mit offener Kritik zurück und richtet sich in der Rolle des aufmerksamen Beobachters ein. Um die Lebensbedingungen und den Alltag der „anderen Hälfte der Bevölkerung“ einzufangen, müs- sen die Fotografen und Reporter des Sonntag oft nicht weit reisen. Im Februar 1937 erscheint eine Fotore- portage von Robert Haas, einem der talentiertesten und wichtigsten Fotografen des Blattes, die in die Vor- stadt im Süden Wiens führt, in den Arbeiterbezirk Simmering (Abb.    7). Der Fotograf besucht, zusam- men mit einem Journalisten oder einer Journalistin, von dem bzw. der wir nur das Namenskürzel A. W. kennen, einen Kindergarten in einem Barackenlager. Dieser „Garten im Lande der Armen“ ist, so erfahren wir gleich auf der Titelseite, „hauptsächlich von Fami- lien Arbeitsloser bewohnt.“26 Das ganzseitige Titelfoto zeigt ein kleines Mädchen, das den Mittagskakao für die anderen Kinder einschenkt. „Nur zwanzig Minuten Straßenbahn vom Zent- rum entfernt liegt dieses Land. Aber wie viele Wo- chenreisen weit vom glücklichen Leben. Es wird noch zum Stadtbereich von Wien gezählt; aber das gilt nur theoretisch. Die Straßen sind nicht mehr ge- pflastert, man versinkt bei jedem Schritt in die Erde, die weich geworden ist von Schnee und Regen. Die Geschäftsländen sehen aus, als hätte seit undenkli- chen Zeiten kein Käufer ihre Schwelle überschritten. Die ‚Konsumwaren‘ der Frau Emilie Chladek schei- nen auch keinen großen Absatz zu finden. Denn die Konsumenten wohnen in Baracken und nicht einmal zur Mittagszeit steigt aus allen Kaminen Rauch.“27 Mit diesen Worten beginnt die Reportage, die sich im Innenteil des Heftes fortsetzt (Abb.    8). Auch hier steht nicht die offene Sozialkritik im Vordergrund, sondern die aufmerksame Beschreibung der sozialen Verhältnisse. Nicht die Armut der Arbeitslosen steht im Zentrum der Reportage, sondern ein hoffnungs- voller Lichtblick: ein Kindergarten mitten „im Lande der Armen“. Voller Anteilnahme und Wärme wird der Alltag der Kinder in der öffentlichen Einrichtung beschrieben. „Ein wenig Wärme, ein wenig Licht, ein sauberer Schlafraum. (...) Hier ist es schöner als zu Hause, sagen die Kinder (...).“28 Neben Einzelbildern und klassischen Reportagen finden sich im Sonntag hin und wieder auch expe- rimentelle Bildgeschichten, die den Alltag aus neu- em Blickwinkel beleuchten. Am 21. Juli 1935 widmet
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Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
Title
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Subtitle
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Author
Anton Holzer
Publisher
Primus Verlag
Date
2014
Language
German
License
CC BY-NC-ND 3.0
ISBN
978-3-86312-073-3
Size
23.0 x 29.0 cm
Pages
498
Keywords
Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
Category
Medien

Table of contents

  1. Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
  2. Neue illustrierte Welt Einleitung 10
  3. Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
  4. Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
  5. Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
  6. Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
  7. Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
  8. Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
  9. Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
  10. Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
  11. Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
  12. Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
  13. Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
  14. Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
  15. Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
  16. Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
  17. Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
  18. Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
  19. Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
  20. Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
  21. Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
  22. Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
  23. Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
  24. Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
  25. Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
  26. Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
  27. Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
  28. Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
  29. Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
  30. Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
  31. Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
  32. Anhang
    1. Anmerkungen 446
    2. Fotografinnen und Fotografen 1890 bis 1945 Biografische Notizen 466
    3. Literatur 483
    4. Zeitungen und Zeitschriften 490
    5. Index 491
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