Web-Books
in the Austria-Forum
Austria-Forum
Web-Books
Medien
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. - Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Page - 439 -
  • User
  • Version
    • full version
    • text only version
  • Language
    • Deutsch - German
    • English

Page - 439 - in Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. - Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945

Image of the Page - 439 -

Image of the Page - 439 - in Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. - Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945

Text of the Page - 439 -

439Ordnung und Exzess len, die es wert sind, genauer analysiert zu werden. Die Sensationspresse taucht nicht erst um 1900 auf, ihre Geschichte reicht weit ins 19. Jahrhundert zu- rück.9 Die rapide Ausweitung der bildlichen Boule- vardberichterstattung in der Wochenpresse, die um die Jahrhundertwende einsetzt und bis zum Aufkom- men des Fernsehens Mitte des 20. Jahrhunderts an- hält, verdankt sich zunächst nicht, wie man vielleicht erwarten würde, der massiven Ausweitung der Leser- schaft hin zur Unterschicht. Während die Boulevard- tagespresse, etwa in Gestalt der populären Montags- zeitungen, um 1900 tatsächlich neue Leserschichten in den unteren sozialen Schichten anspricht, wendet sich der Großteil der illustrierten Wochenpresse nach wie vor vorwiegend an eine bürgerliche und klein- bürgerliche Leserschaft.10 Erst nach der Jahrhun- dertwende, und damit später als etwa in Frankreich, England oder den USA, kommt es in Österreich zu Neugründungen von Billigillustrierten, die dezidiert die unteren sozialen Schichten ansprechen wollen. Das Bürgertum, der Hauptadressat der illustrierten Presse, ist um die Jahrhundertwende keineswegs eine traditionsreiche, stabile Einheit, sondern, vor allem in Städten wie Wien, die durch enorme Zuwanderung gekennzeichnet sind, ein soziales Konglomerat, das sich ständig neu erfinden und nach außen hin ab- grenzen muss. Die illustrierte Presse bietet in dieser Umbruchsituation einerseits Halt, andererseits er- möglicht sie einen neugierigen Blick über die Gren- zen bürgerlicher Lebensweisen hinaus. Themen wie Sex, Gewalt und Verbrechen sind fes- te Bestandteile des bildlichen Boulevards (Abb.  2). Die anhaltende Faszination, die sie auf die Leserschaft ausüben, zeigt, wie sehr die bürgerliche Gesellschaft, die um Ruhe, Ordnung und gesellschaftliche und moralische Stabilität besorgt ist, auch von einem un- tergründigen Bedürfnis nach Ausbruch und Exzess geprägt ist. Die fotografischen Bilder, die um 1900 in der illustrierten Presse Einzug halten, haben also eine doppelte Bedeutung. Auf der einen Seite ver- stärken die Fotografien allmählich den Anstrich des Dokumentarischen in der Berichterstattung. In dieser Rolle lösen sie, wie wir gesehen haben, das ältere Me- dium der Pressezeichnung ab. Aktuelle Fotografien authentifizieren nun gewissermaßen die Schlagzei- Ordnung  und  Exzess Die Bilder und Texte, die in der populären, aufla- genstarken Bildpresse erscheinen, spiegeln die Po- pulärkultur, über die sie berichten, keineswegs eins zu eins wider. Vielmehr halten sie, das ist wichtig festzuhalten, in der Regel den bürgerlichen Blick auf das populäre Leben fest. Das interessante Blatt, die größte Illustrierte des Landes, ist ein gutes Beispiel für diese mediale Zwitterstellung. Es ist sowohl von der Eigentümerstruktur als auch von der Leserschaft her ein durch und durch bürgerliches Blatt. Auch in seiner äußeren Erscheinung knüpft es an die bürger- lichen Familienblätter des 19. Jahrhunderts an.8 Das zeigt bereits die Titelvignette, die diese Tradition gra- fisch zitiert. Sie wird, das ist bemerkenswert, von der Gründung bis zum Jahr 1939 mit leichten Variationen beibehalten. Im Innenteil aber entfernt sich die Zeitung um die Jahrhundertwende vom Modell der biederen Famili- enzeitschrift. Sie setzt auf eine Mischung von nüch- terner Berichterstattung und Klatsch, von nackten Nachrichten und voyeuristisch aufbereiteten Sensatio- nen. Erfolg hat das Blatt gerade mit dieser Kombinati- on von Beruhigung und Aufreizung. Woche für Woche wird die Leserschaft mit seriösen Nachrichten, aber auch mit Sensationen beliefert, Bildern und Berichten also, die deutlich über die bürgerliche Erfahrungswelt hinausführen – sei es nun eine Nackttanzaufführung im Wiener Prater oder ein Eisenbahnunglück in der Provinz. Im Laufe der Jahre wird diese Themenviel- falt allmählich gebändigt. Je stärker sich eine an der Tagespolitik orientierte Nachrichtenstruktur heraus- bildet, desto stärker wird die Welt der populären Sen- sationen beschnitten. In der Zwischenkriegszeit werden viele der ehemaligen Sensationsblätter „seriöser“. Sie etablieren sich nun als Bilderzeitungen für die wöchentlichen Nachrichten, auch wenn sie ihre Ver- gangenheit als Unterhaltungsmedien nicht gänzlich abstreifen. Zugleich entsteht ein ausufernder Maga- zinmarkt, der weiterhin die voyeuristischen Bedürf- nisse der Leserschaft befriedigt. Die vorschnelle Kritik an der populären Sensati- onspresse, die oft bürgerlicher Herkunft ist, verkennt, dass diese Medien ganz spezifische Aufgaben erfül-
back to the  book Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. - Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945"
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
Title
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Subtitle
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Author
Anton Holzer
Publisher
Primus Verlag
Date
2014
Language
German
License
CC BY-NC-ND 3.0
ISBN
978-3-86312-073-3
Size
23.0 x 29.0 cm
Pages
498
Keywords
Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
Category
Medien

Table of contents

  1. Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
  2. Neue illustrierte Welt Einleitung 10
  3. Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
  4. Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
  5. Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
  6. Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
  7. Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
  8. Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
  9. Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
  10. Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
  11. Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
  12. Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
  13. Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
  14. Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
  15. Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
  16. Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
  17. Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
  18. Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
  19. Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
  20. Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
  21. Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
  22. Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
  23. Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
  24. Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
  25. Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
  26. Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
  27. Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
  28. Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
  29. Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
  30. Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
  31. Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
  32. Anhang
    1. Anmerkungen 446
    2. Fotografinnen und Fotografen 1890 bis 1945 Biografische Notizen 466
    3. Literatur 483
    4. Zeitungen und Zeitschriften 490
    5. Index 491
Web-Books
Library
Privacy
Imprint
Austria-Forum
Austria-Forum
Web-Books
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.