Page - 14 - in Religion, Medien und die Corona-Pandemie - Paradoxien einer Krise
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als geplant: Die Situation erwies sich als komplett unvorhersehbar. Viele
von uns machten chaotische, aber immer wieder unglaublich berührende
Erfahrungen. Die Covid-19-Pandemie und all diese raschen und massiven
Maßnahmen zu ihrer Eindämmung bewirkten eine Disruption des alltägli-
chen Lebens – in einem Ausmaß, das man sich nicht vorstellen konnte. Po-
litisch und moralisch gerechtfertigt wurde diese Störung mit dem Gesund-
heitsschutz und der Rettung von Menschenleben. Betro!ene stellten Soli-
daritätsaktionen und Nachbarscha#shilfe auf die Beine. Musiker spielten
auf Balkonen. Man traf sich in Online-Foren. Kreativität und tief menschli-
che Sorge zeigten sich auf vielen Ebenen.
Auch Proteste kamen bald, angefeuert von in sozialen Medien ge-
schickt, teils gewitzt gestreuten Falschmeldungen, von Verschwörungs-
theorien, die selbsternannte Gegenpropheten in weißen Kitteln auf klei-
nen Handybildschirmen allen, die es hören wollten, überzeugt verkünde-
ten. Menschen brauchen auch dies.
In einer solch aufgeladenen Situation lässt sich viel Wichtiges, Überra-
schendes, auch viel Konfliktha#es beobachten. Menschen zeigten unfrei-
willig viel mehr als sie sonst in den Bewegungsroutinen des Alltags von
sich zeigen würden. Die Kultur, die Gesellscha# musste sozusagen in Ein-
zelteile zerlegt und einzeln neu geregelt werden: Welche Teile hat man da
eigentlich, die man zuerst schließen, dann wieder ö!nen kann? Wo muss
repariert werden? Wem müssen Fallschirme verteilt werden? Die Alltags-
welt lag plötzlich nackt da, ohne die schönen Kleider der unhinterfragten
Gewohnheiten. Welche Welt zerbricht da gerade?
Das Virus kann bekanntlich alle tre!en. Es diskriminiere nicht, wurde
o# gesagt. Aber das stimmt nicht, weil es nicht alle gleich tri$. Das Virus
wirkte und es wirkt weiterhin als Verstärker von sozialen Ungleichheiten
und vertie# Ungerechtigkeiten, die es schon gab.
Dieses Buch ist ein Beobachtungsbuch, geschrieben während der laufen-
den Corona-Krise. Die Texte zeigen an konkreten, o# überraschenden und
zum Nachdenken anregenden Beispielen auf, was sich in der Pandemie für
uns Menschen Wichtiges zeigt. Manchmal sind es kleine Details, die wich-
tig werden. Wir können gerade ziemlich viel lernen über uns selbst, über
die konkreten Systeme und die Strukturen – auch etwas über uns Men-
schen überhaupt. Das Buch zeigt uns, worauf wir achten können und wie
es möglich bleibt, aufmerksam zu sein.
Menschen brauchen sinnha#e Deutungen und Narrative, die unweiger-
lich ins Religiöse reichen: Wer oder was ist schuld? (Es hat sich vielleicht
herumgesprochen: Fledermäuse taugen nicht als Schuldige.) Ist diese Seu-
che nun die Strafe Gottes für die rücksichtslose Ausbeutung der Erde? Gar
das Ende der Zeiten? (Aber was endet dann genau?) Was ist uns in der Kri-
Einführung
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https://doi.org/10.5771/9783748922216, am 10.02.2021, 12:13:48
Open Access - - https://www.nomos-elibrary.de/agb
Table of contents
- Einführung 7
- Fahren auf Sicht im Nebel des notwendig Undeutlichen 11
- Wenn jetzt alles anders ist, wie ist es denn immer gewesen? 13
- «Wir sitzen zu Hause und draußen geht die Welt unter» 17
- Gemeinscha!en in Isolation 23
- Leere Tempel, volle Livestreams in China 27
- Digitale Au!ührungen des Ausnahmezustands 35
- Ambivalente Deutungen des Virus in Facebook-Communities 41
- Krise und Solidarität im öffentlichen Raum 49
- Solidarität zwischen Kirche und Suppenküche 51
- Leid und Hoffnung einer Nation im Grati 59
- Unterhaltung in der Pandemie 67
- Lieder zwischen Krisenbewältigung und Entertainment 69
- Witz und Religionskritik in Internet-Memes 77
- Der Tod als mediale Inszenierung 85
- Einsamer Abschied vor aller Welt 87
- Das Virus ist unsichtbar, der Tod ganz konkret 93
- Wirklichkeitsdeutung zwischen Fakten und Fake News 101
- Erlösung durch Kapitalismus 103
- Die Verschwörung(en) hinter der Pandemie 111
- Ausblicke ins Ungewisse 119
- Die Pandemie als Ritual – ein Gedankenspiel 121
- Prophetische Metaphern der postpandemischen Zeit 127
- Abbildungsverzeichnis 133