Page - 30 - in Religion, Medien und die Corona-Pandemie - Paradoxien einer Krise
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ge konnten dort die ersten sieben Kapitel des Avataূsaka-Sutra 䞆ᩋ䄪
nachverfolgen und mitlesen. Jedes Mal nahmen 13 Mönche des Tempels
am Ritual teil, obwohl Mönche, ebenso wie Statuen von Buddhas und Bo-
dhisattwas, gemäß den Regelungen der TikTok-Plattform nicht gezeigt
werden dürfen.
Im Gegensatz zu religiösen Handlungen vor der Corona-Zeit boten die
Rituale in diesen beiden Beispielen den Gläubigen keine physische Ver-
sammlungsmöglichkeit in einem für Religion geeigneten Raum, sondern
eine fragile Verbindung durch soziale Medien, die normalerweise zur all-
täglichen Kommunikation und Unterhaltung dienen. In den sozialen Me-
dien existiert keine sichtbare Schwelle wie die Tür eines Heiligtums, die
den heiligen vom profanen Raum trennt. Wie haben es die Tempel in die-
ser speziellen Situation gescha$, den heiligen Raum im Internet zu gestal-
ten?
Die elektronisch gestützte Online-Welt ist heute ein Bestandteil unseres
Lebens geworden. In diesem Sinne ist sie auch von der Spannung zwi-
schen dem Heiligen und dem Profanen geprägt. Diese Kategorien stellen
keine substanzielle Di!erenz dar, sondern sind situationsbedingte und re-
lationale Kategorien, deren Grenzen fluide sind. Émile Durkheim betonte
1912 in seinem einflussreichen Werk Die elementaren Formen des religiösen
Lebens, wie wichtig religiöse Rituale für die Gestaltung der profanen und
heiligen Sphären innerhalb einer Gemeinscha# sind und wie damit ihr
Zusammenhalt gewährleistet wird. Durch gemeinsame Handlungen und
Überzeugungen werde ein Raum bestimmt, in dem der Unterschied zwi-
schen Heiligem und Profanem sichtbar und erlebbar gemacht werde.
Im vom französischen Sinologen Benoît Vermander mitverfassten Werk
Shanghai Sacred wird auf diese Funktion von Religion hingewiesen. Darin,
unter den zahlreichen Illustrationen dazu, findet sich das Beispiel von bud-
dhistischen Laiengruppen, die in Shanghai bei Wasserstraßen regelmäßig
sogenannte Tierfreigabe-Rituale durchführen: Zum Essen bestimmte Fi-
sche werden in Flüssen frei gelassen. In diesem Ritual wird durch eine
Kombination aus Gewändern, Gesten, Musik und Choreografie ein ö!ent-
licher heiliger Raum geformt.
Das Internet und die sozialen Medien erweitern den Lebensraum. On-
line-Medien bieten einen Platz für Rituale, sodass Leute trotz physischer
Abwesenheit vor Ort gemeinsame Tätigkeiten durchführen können. Diese
gemeinsame Tätigkeit wird durch Festlegung eines bestimmten Zeitraums,
in dem das Ritual verrichtet wird, verwirklicht. Eine Laien-Buddhistin liest
also die Kapitel nicht allein zu Hause, sondern zusammen mit anderen
Gläubigen sowie den Mönchen im Tempel. Teilnehmende des zweiten
oben genannten Rituals konnten außerdem die Gesamtteilnehmer:innen-
Gemeinscha!en in Isolation
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https://doi.org/10.5771/9783748922216, am 10.02.2021, 12:13:48
Open Access - - https://www.nomos-elibrary.de/agb
Religion, Medien und die Corona-Pandemie
Paradoxien einer Krise
- Title
- Religion, Medien und die Corona-Pandemie
- Subtitle
- Paradoxien einer Krise
- Author
- Daria Pezzoli-Olgiati
- Editor
- Anna-Katharina Höpflinger
- Publisher
- Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-7489-2221-6
- Size
- 15.3 x 22.7 cm
- Pages
- 134
- Categories
- Coronavirus
- Medien
Table of contents
- Einführung 7
- Fahren auf Sicht im Nebel des notwendig Undeutlichen 11
- Wenn jetzt alles anders ist, wie ist es denn immer gewesen? 13
- «Wir sitzen zu Hause und draußen geht die Welt unter» 17
- Gemeinscha!en in Isolation 23
- Leere Tempel, volle Livestreams in China 27
- Digitale Au!ührungen des Ausnahmezustands 35
- Ambivalente Deutungen des Virus in Facebook-Communities 41
- Krise und Solidarität im öffentlichen Raum 49
- Solidarität zwischen Kirche und Suppenküche 51
- Leid und Hoffnung einer Nation im Grati 59
- Unterhaltung in der Pandemie 67
- Lieder zwischen Krisenbewältigung und Entertainment 69
- Witz und Religionskritik in Internet-Memes 77
- Der Tod als mediale Inszenierung 85
- Einsamer Abschied vor aller Welt 87
- Das Virus ist unsichtbar, der Tod ganz konkret 93
- Wirklichkeitsdeutung zwischen Fakten und Fake News 101
- Erlösung durch Kapitalismus 103
- Die Verschwörung(en) hinter der Pandemie 111
- Ausblicke ins Ungewisse 119
- Die Pandemie als Ritual – ein Gedankenspiel 121
- Prophetische Metaphern der postpandemischen Zeit 127
- Abbildungsverzeichnis 133