Page - 38 - in Religion, Medien und die Corona-Pandemie - Paradoxien einer Krise
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menden, tragen eine Erinnerung des Erlebten in sich. In diesem Sinne ver-
leihen sie dem einzelnen Ereignis einen Fortbestand.
Durch die digitalen Medien werden Zeit und Raum der Au!ührung
fragmentiert, verzerrt, angepasst und erweitert. Man löst sich von einem
leiblich geteilten Ort, sodass nun die Räume, in denen der Gottesdienst er-
lebt wird, voneinander getrennt sind. Zwischen den Kirchenraum, in dem
der Priester das Ritual durchführt, und die privaten Zimmer, in denen die
Gläubigen vor dem Bildschirm sitzen, wird eine Distanz eingeschoben.
Das Ereignis wird zeitlich flexibler: Zwar gibt es mehr oder weniger feste
Uhrzeiten, bei denen man sich zur Messe einschalten kann, doch was hier
und jetzt zelebriert wird, kann man jederzeit ausschalten, anhalten oder
eine Woche später als Video auf YouTube, teilweise oder ganz, nachholen.
In diesem Fall wird die spezifische Au!ührung des Rituals in seiner media-
len Darstellung wiederholbar. Die Einmaligkeit einer Messe als Erlebnis an
einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit wird aufgelöst. Das
Ritual wird digital individuell wiederholbar, jenseits der Gemeinscha#.
Die Transformation von einem einmaligen, flüchtigen Ereignis in einen
digital vermittelten, beliebig abru%aren Datenstrom, den man den eige-
nen Lebensumständen individuell anpassen kann, beeinflusst die Bedeu-
tungen, die mit dem Gottesdienst verbunden sind. Die kollektive, zwi-
schenmenschliche Interaktion fällt weg: Gemeinsames Betro!ensein bei
einer Predigt wird durch eine individuelle Interpretation ersetzt, die
Wechselwirkung mit dem Priester verschwindet, die gegenseitigen Reak-
tionen sind nicht wahrnehmbar.
Findet die Eucharistiefeier im Streaming statt, kommen also aufschluss-
reiche theologische Fragen auf.
Die römisch-katholische Eucharistie und das Paradox der geistigen
Kommunion
Im Mittelpunkt einer römisch-katholischen Messfeier steht das Sakrament
der Eucharistie. Sie dient als Zeichen, als Verweis auf eine transzendente
Dimension, doch gleichzeitig konkretisiert sie die Wirklichkeit und die
Gnade Gottes in der Hostie.
Durch die Konsekration, den Akt der Wandlung, werden die Substan-
zen des Brotes und des Weines in die Substanz Christi gewandelt. Die Leh-
re dieser Wesensverwandlung, die in der Tradition als Transsubstantiation
bezeichnet wird, verweist auf die aristotelische, im Mittelalter weiterentwi-
ckelte Trennung von Substanz, dem Wesen, das nicht durch die Sinne
wahrnehmbar ist, und Akzidenzien, den wahrnehmbaren, veränderlichen
Gemeinscha!en in Isolation
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https://doi.org/10.5771/9783748922216, am 10.02.2021, 12:13:48
Open Access - - https://www.nomos-elibrary.de/agb
Religion, Medien und die Corona-Pandemie
Paradoxien einer Krise
- Title
- Religion, Medien und die Corona-Pandemie
- Subtitle
- Paradoxien einer Krise
- Author
- Daria Pezzoli-Olgiati
- Editor
- Anna-Katharina Höpflinger
- Publisher
- Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-7489-2221-6
- Size
- 15.3 x 22.7 cm
- Pages
- 134
- Categories
- Coronavirus
- Medien
Table of contents
- Einführung 7
- Fahren auf Sicht im Nebel des notwendig Undeutlichen 11
- Wenn jetzt alles anders ist, wie ist es denn immer gewesen? 13
- «Wir sitzen zu Hause und draußen geht die Welt unter» 17
- Gemeinscha!en in Isolation 23
- Leere Tempel, volle Livestreams in China 27
- Digitale Au!ührungen des Ausnahmezustands 35
- Ambivalente Deutungen des Virus in Facebook-Communities 41
- Krise und Solidarität im öffentlichen Raum 49
- Solidarität zwischen Kirche und Suppenküche 51
- Leid und Hoffnung einer Nation im Grati 59
- Unterhaltung in der Pandemie 67
- Lieder zwischen Krisenbewältigung und Entertainment 69
- Witz und Religionskritik in Internet-Memes 77
- Der Tod als mediale Inszenierung 85
- Einsamer Abschied vor aller Welt 87
- Das Virus ist unsichtbar, der Tod ganz konkret 93
- Wirklichkeitsdeutung zwischen Fakten und Fake News 101
- Erlösung durch Kapitalismus 103
- Die Verschwörung(en) hinter der Pandemie 111
- Ausblicke ins Ungewisse 119
- Die Pandemie als Ritual – ein Gedankenspiel 121
- Prophetische Metaphern der postpandemischen Zeit 127
- Abbildungsverzeichnis 133